Wesen des Okzidental

Von Ing. Engelbert Pigal, Liesing bei Wien

aus: Occidental – die Weltsprache, Stuttgart (Franckh’sche Verlagshandlung) 1930.

Wer in den verschiedenen Weltsprach-Zeitschriften (Korespondens International, Progress, Lingua Internationale, The International Language, Discussiones de Academia pro Interlingua, Progreso, Kosmoglott, Cosmoglotta usw.), welche bei der Abfassung dieses Artikels als Quellen dienten, Wahls Arbeiten bis zu den Anfängen zurückverfolgt, der wird feststellen, daß der Schöpfer des Okzidental schon in seinen ersten Veröffentlichungen ein entschiedener Vorkämpfer und Vertreter der größtmöglichen Natürlichkeit der künftigen Weltsprache war, wobei Wahl immer wieder im Gegensatz zu den anderen Forschern betonte, daß diese Natürlichkeit im Einklang mit vollständiger Regelmäßigkeit des Sprachgefüges stehen muß.

  1. Natürlichkeit und Regelmäßigkeit in der Wortbildung
  2. Perfektstamm
  3. Zustandswörter und Tätigkeitswörter
  4. Gesetze des Lebens
  5. Grundsatz der Eindeutigkeit
  6. Lautgemäße Schreibung
  7. Doppelte Aussprache des c
  8. Vorteile der etymologischen Schreibung
  9. Doppelte Mitlaute
  10. Obligatorische Endungen
  11. Bedeutung der Ableitsilben
  12. Wissenschaftliche Forschungsmethode
  13. Durchsicht des internationalen Wortschatzes
  14. Weltsprache und europäische Sprache
  15. Innere Einheitlichkeit der Internationalsprache
  16. Analytische Methode der Konjugation
  17. Leichte Erlernbarkeit
  18. Fundament der internationalen Sprache

Natürlichkeit und Regelmäßigkeit in der Wortbildung

Die Verfasser der einzelnen Weltsprachentwürfe waren stets bemüht, entweder größtmögliche Regelmäßigkeit (d. h. wenige und einfache Regeln) oder größtmögliche Natürlichkeit (d. h. Anpassung an die Formen der natürlichen Sprachen zu erreichen. Im allgemeinen war man der Ansicht, daß die eine Forderung, wie bei Kompromissen, nur auf Kosten der anderen erfüllt werden könne.

Neben der „Mundolingue“ von Julius Lott, des seinerzeitigen Volapükführers in Österreich, ist das „Universal“ des deutschen Professors Dr. H. Molenaar einer der neueren Weltsprachentwürfe; es erscheint in seinem Äußeren bereits sehr natürlich und ist dem Okzidental ziemlich ähnlich. Aber der große Mangel des Universal ist, wie sein Verfasser selbst bekannt hat, daß es das Problem der regelmäßigen und dabei natürlichen deverbalen Derivation (der Wortableitung vom Zeitwort) nicht lösen konntoe. So finden wir im Wörterbuch des Universal Hunderte von unregelmäßigen Ableitungen wie abdiker (abdanken), abdikazion (Abdankung); admoner (ermahnen), admonizion (Ermahnung); afliger (betrüben), afliktiv (betrüblich), aflikzion (Betrübnis); aserter (behaupten), aserzion (Behauptung); diferer (verschieden sein), diferent (verschieden), diferenzial; solver (lösen), solubl (lösbar) usw. Zu ähnlichen Ergebnissen kam Lott in seinem ersten Sprachentwurf.

Ingenieur Rosenberger in Petersburg, der sich auch vergeblich bemüht hatte, einfache Ableitregeln für die internationalen Wörter zu finden, hat in seinem Sprachentwurf „Idiom Neutral“ diese Schwierigkeit einfach so umgangen daß er die internationalen Ausdrücke, wie definition, construction durch willkürliche Bildungen wie definasion, konstruktasion ersetzt hat.

Keiner der Sprachverfasser hat gründlicher untersucht, ob es möglich wäre, einige einfache Regeln zu finden, um die in der ganzen Welt bekannten Ableitungen leicht und ohne wesentliche Ausnahmen zu erhalten. Erst im Okzidental ist dieses schwierige Problem zufriedenstellend gelöst.

Wahl machte darauf aufmerksam, daß in den internationalen Wörtern agitation, agitator, agitabil, agitatorisch; creation, creatur; position, positiv; definition, definitiv usw. der Zeitwortstamm nicht agit, cre, pos, defin usw. heißt, sondern agita, crea, posi, defini, weil die Laute a und i auch in den Ableitungen wiedererscheinen. Die Beibehaltung dieser vokalischen Auslaute beim Zeitwortstamm ist von größter Wichtigkeit für die regelmäßige Ableitung aller internationalen Wörter. Sie sind sozusagen der Ariadnefaden im scheinbaren Chaos der Unregelmäßigkeiten. Diesen Vokal bei den Zeitwörtern hinzuzulernen, verursacht keine besonderen Schwierigkeiten, denn wer das Wort noch nicht kennt, muß es eben als neues samt dem Vokal lernen. Es ist doch wirklich ganz einerlei, ob man als Stamm, bzw. Nennform des Zeitwortes, wie etwa im Ido defin, definar, oder wie im Okzidental defini, definir lernt. Selbst wenn man den Vokal vergessen haben sollte, findet man ihn leicht wieder aus Ableitungen, die man sich gemerkt hat. So kann man aus conversation conversar rückbilden, aus petition petir (bitten), aus decoration und decorativ decorar, aus additiv und addition addir, aus different, differential differer usw. Wenn die internationale Ableitung keinen solchen Vokal enthält, z. B. adoption, adoptiv; fractur, fraction; conductor conduction, conductiv; activ, action, actor, dann schaltet man zwischen dem Zeitwortstamm und der Nennwortbildung -r ein e ein: adopter, fracter, conducter, acter.

Die Vertreter der verschiedenen Weltsprachrichtungen bemühen sich bereits seit mehr als vierzig Jahren, ohne diese nun so einfach scheinende Lösung des Verbalproblemes, das Ei des Kolumbus in der Interlinguistik, haben finden zu können. Im Okzidental sehen wir nun endlich die Einordnung der natürlichen internationalen Ableitungen in ein einfaches und regelmäßiges System durchgeführt, ohne Verstümmelungen der Formen vornehmen zu müssen, wie es bei Esperanto, Ido, Idiom Neutral und bei Novial geschehen ist. Um die Wörter in das willkürlich aufgestellte Ableitungssystem dieser Sprachen einzwängen zu können, mußte man eine Unmenge neuer fremdartiger Bildungen schaffen. Andererseits aber nahm man Tausende internationaler Ableitungen im Wörterbuch als eigene Wurzel auf. Häufig findet man für denselben Begriff beide Formen nebeneinander, die internationale und die autonome. So hat Esperanto für Warte: observejo und observatorio, für Redakteur: redaktisto und redaktoro. Im Ido sind diese Doubletten (auch Mackensensche Wörter genannt) noch zahlreicher vertreten: regulilo und regulatoro für Regler, enkasigar und inkasar für einheben, toxikizar und intoxikar für vergiften, garnisajo und garnituro für Besatz.

Okzidental ist die einzige Sprache, welche durch ihre sinnreiche Systematisierung und mit einigen wenigen Regeln Ordnung in dieses Chaos gebracht hat. Alle bekannten internationalen Wörter wie aviator (Esp¹ aerflugisto) für Flieger, salvation (Esp savado) für Rettung, expedition (Esp ekspedado) für Beförderung, additiv (Esp adicia) für zusammenzählend, executor (Esp ekzekuciisto) für Vollstrecker, creatura (Esp kreitajho) für Geschöpf, multiplicand (Esp multobligato) für Multiplikand usw. sind im Okzidental keine Fremdlinge, die aus Pietät oder Trägheit übernommen wurden und etwa aus Mangel an geeigneten Ableitregeln wie im Latino sine Flexione des Professors Peano nur im Wörterbuch zu finden sind, sondern sie stellen klare Ableitungen der eigenen Wurzeln des Okzidental dar.


(1) Abkürzungen: Okz Okzidental, Esp Esperanto, LsF Latino sine Flexione (auch Interlingua genannt), L Latein, G Griechisch, D Deutsch, E Englisch, F Französisch, I Italienisch, S Spanisch, R Russisch.


Sprachschöpfer wie Zamenhof und Couturat erklärten die natürlichen Sprachen von vorneherein als unlogisch und unregulierbar und stellten daher ein neues, künstliches grammatikalisches Schema auf, gleichsam ein sprachliches Prokrustesbett, in dessen Rahmen die uns mehr oder weniger vertrauten Wortbilder hineingespannt wurden. Erst Wahls Werk zeigt, daß in den lebenden Sprachen mehr System und Regelmäßigkeit herrschen, als man bisher anzunehmen geneigt war. Es ist durchaus nicht nötig, neue „rationale“ Sprachen zu ersinnen. Den Erfindern derartiger Entwürfe, die von einem solchen negativen Studienergebnis der natürlichen Sprachen ausgehen, wird es nie gelingen, ihre künstlichen Sprachen gegen die psychologischen Widerstände der Völker durchzusetzen. Wir sehen dies in der Esperantobewegung, die trotz vier Jahrzehnten unermüdlicher Werbetätigkeit, trotz Förderung durch eine Reihe von Körperschaften dennoch im öffentlichen internationalen Gebrauch nirgends recht Wurzel fassen konnte. Dies ist ein fast zwingender Beweis für die mißlungene Lösung des Problems.

Perfektstamm

Lateinern fällt es wohl auf, daß Okzidental als Zeitwortwurzel vielfach die sogenannte Supinalform oder, wie Wahl sie bezeichnet, den Perfekstamm (Stamm des lateinischen Mittelwortes der Vergangenheit) wählt. So hat Okzidental restricter für das lateinische restringere (einschränken), percepter für percipere (wahrnehmen), producter für producere (hervorbringen). Das ist durchaus nicht willkürlich, sondern hat seine guten Gründe. Es geht nicht an, im Wörterbuch der internationalen Sprache bei den Zeitwörtern, die im Latein unregelmäßig sind, zwei besondere Stämme nebeneinander zu haben, einen Präsens- und einen Perfektstamm, wie es in Latino sine Flexione, Idiom Neutral, Universal u. a. der Fall ist. Bei Zeitwörtern, die im Latein einen eigenen Perfekstamm haben, nimmt Okzidental nur diesen an, weil er vorzugsweise in Ableitungen gebraucht wird. Schon im Latein kann man das Verdrängen des Präsensstammes durch den Perfektstamm feststellen, z. B. cantare für canere (singen), saltare für salire (springen). In den romanischen Sprachen sind solche Übergänge noch häufiger. So hat das Französische schon infecter, während wir im Deutschen noch infizieren (vom Humanismus her, nach dem lateinischen inficere) haben; oder F accepter, D akzeptieren (L accipere).

Am stärksten ist dieses Bestreben im Englischen vorhanden: to discuss (Okz discusser), L discutere, D diskutieren (besprechen); to confuse (Okz confuser), L confundere, D konfundieren (verwirren); to suggest (Okz suggester), L suggerere, D suggerieren (eingeben, beeinflussen); to protect (Okz protecter), L protegere, D protegieren (beschützen); to correct (Okz correcter), L corrigere, D korrigieren (berichtigen); to act (Okz acter), L agere, D agieren (handeln); to construct (Okz constructer), L construere, D konstruieren (bauen); to compress (Okz compresser), L comprimere, D komprimieren (verdichten, zusammendrücken); to conduct (Okz conducter), L conducere (führen, leiten). Das Englische hat sogar Präsensstämme aus lateinischen Perfektformen der regelmäßigen A-Konjugation gebildet: to moderate (Okz moderar), L moderare, D moderieren (mäßigen); to educate (Okz educar), L educare (erziehen); to inundate (Okz inundar), L inundare, D inundieren (überschwemmen). Diese Vergleichsbeispiele zeigen, daß Okzidental, obzwar es in der Entwicklung des Zeitwortes weiter vorgeschritten ist als die romanischen Sprachen, in dieser Richtung doch nicht so weit gegangen ist wie die englische Sprache oder der Sprachentwurf „Glott“ des russischen Ingenieurs Petraschewitsch, in welchem „ich liebe“ ego amat heißt.

Zustandswörter und Tätigkeitswörter

In der Sprachlehre ist es üblich, die Zeitwörter in zielende, nicht zielende (ziellose), rückbezügliche, neutrale usw. einzuteilen. Neben dieser äußeren Klassifikation, die für die Verbaltheorie der internationalen Sprache praktisch wenig zu sagen hat, teilt Wahl die Zeitwörter in folgende zwei Gruppen ein: 1. Zustandswörter, verbes static und 2. Tätigkeitswörter, verbes dynamic. Die Teilung der Zeitwörter nach diesem psychologischen Gesichtspunkt ist von größter Wichtigkeit für die regelmäßige Ableitung der natürlichen internationalen Wörter lateinischen Ursprungs.

Die Zustandswörter stellen einen dauernden, unveränderten Zustand dar: z. B. esser (sein), consister (bestehen), concordar (übereinstimmen), perseverar (ausharren), provenir (herkommen, Ursprung), conosser (kennen). Zustandshauptwörter werden gebildet durch Anfügen der Endung -ie an das auf -nt endigende Mittelwort der Gegenwart²: distantie, existentie, provenientie, differentie; man schreibt nicht difference oder differenz, nicht essence oder essenz usw., weil man von differenti-e, essenti-e usw. regelmäßig weiter ableitet: differential, differenti-ation, essenti-al usw.


(2) Die Regel zur Bildung des Mittelwortes der Gegenwart befindet sich im Kursus (Seite 85) und im „Repetitorie del Grammatica“ (Seite 164).


Die Tätigkeitswörter zeigen an, daß etwas stattfindet, gemacht wird, daß eine Änderung des Zustandes vor sich geht, z. B. venir (kommen), scrir (schreiben), parlar (sprechen), rotar (drehen), batter (schlagen). Tätigkeitshauptwörter werden gebildet durch Anhängen der Silbe -ion an den Perfektstamm³: rotation, destruction, indication, insertion, action, oder Hauptwörter, die den erreichten Zustand kennzeichnen, durch Anhängen der Silbe -ura: ruptura, tonsura.


(3) Die drei einfachen Regeln, um den Perfektstamm des Tätigkeitswortes zu erhalten, befinden sich im Kursus Seite 91 und im „Repetitorie del Grammatica“ Seite 164.


Durch die Anwendung des Begriffes „Perfektstamm“ erhielt Wahl auf einfache Weise die natürlichen internationalen Ableitungen bis zu Tausenden. Alle unregelmäßigen lateinischen Verben (ausgenommen höchstens ein Dutzend) sind auf diese Weise regularisiert, und man kann gute regelmäßige Neubildungen ableiten, ohne das Sprachgefühl zu verletzen.

Viele Wörter auf -ion erhielten durch die Entwicklung eine konkretere Bedeutung; sie stellen daher nicht nur die Handlung, sondern auch die Methode, das Ergebnis, den Ort usw. dar, z. B. construction, redaction. Solche abgeleitete Bedeutungen kommen aber auch in noch so „logischen“ Kunstsprachen vor. So bedeuten auch in Esperanto redakcio, kunveno usw. sowohl Tätigkeiten als auch Personen (Schriftleitung, Versammlung). Auch die Grenze zwischen Zustands- und Tätigkeitswörtern ist naturgemäß nicht mathematisch genau; so kann z. B. von tolerar (dulden) sowohl tolerantie als toleration gebildet werden, wobei der Unterschied in der Bedeutung nur gering ist.

Gesetze des Lebens

Im Leben der Sprache diktieren nicht starre mathematische Prinzipien, sondern die Gesetze des Lebens: Psychologie und Physiologie. Die Weltsprache soll nicht dazu dienen, um nach ersonnenen Regeln einer algebraischen Logik zu sprechen, sondern um sich in der leichtesten Weise zu verständigen. Sprache hat mit Mathematik nichts gemein. Die beharrliche Nichtbeachtung dieser einfachen Tatsache von Seiten hervorragender Vertreter der Weltsprache im Lager des Esperanto und insbesondere des Ido, nach deren Ansicht die Weltsprache etwa wie eine mathematische oder chemische Formel funktionieren solle, hat der Entwicklung sehr geschadet. Mit Algebra lassen sich wohl Probleme der Physik und Astronomie lösen, nicht aber Fragen der Sprachwissenschaft. Die Logik ist die schwierigste Art des Denkens und ist daher so selten in Anwendung. Sie erscheint nur bei neuen Tatsachen, wo man nicht nach Instinkt und Gewohnheit handeln kann. Man kann nicht sprechen, wenn man immer wieder nachdenken muß, wie die Wörter logisch zu bilden sind. Nur wenn man die richtigen Wörter sozusagen instinktiv benützt und mehr mit Hilfe stehender Wendungen spricht, kann man die ganze Aufmerksamkeit auf den Inhalt selbst richten. Aber um dieses instinktive Sprechen zu erlangen, muß man die natürlichen Gesetze befolgen, die uns die Psychologie weist: Gewohnheit und Analogie.

Diejenige Sprache wird am schnellsten erlernt werden, welche die gebräuchlichsten Formen enthält, und die leichteste Wortbildung beruht auf der Analogie nach schon bekannten internationalen Ausdrücken.

Grundsatz der Eindeutigkeit

Ein beliebter Grundsatz der Anhänger der absoluten Logik in der Sprache ist: ein Wort – ein Begriff, ein Begriff – ein Wort. Dies ist aber ein unerfüllbarer Traum. Diese Erkenntnis bricht sich nun nach vier Jahrzehnten Erfahrung auch bei den Esperantisten schon Bahn. Das Wochenblatt „Heroldo de Esperanto“ (Köln) schreibt zu dieser Frage: „Bedauerlicherweise wird der Grundsatz der Eindeutigkeit der Wörter auch in Esperanto häufig durchbrochen. Die Ursache ist, daß Esperanto bis zu einem gewissen Grade eine natürliche Sprache darstellt. Das ist aber nicht so gefährlich, denn der Mittext beseitigt fast immer jeden Zweifel. Es ist natürlich Sache des Schreibers, einen Ausdruck mit zweifelhaftem Inhalt zu benützen oder nicht.“

Es ist klar, daß man aus der Weltsprache z. B. das Wort sol, das durch internationale Ableitungen, wie Solo, Solist, Solitär, desolat mit der Bedeutung „allein“ eingewurzelt ist, nicht ohne arge Folgen ausrotten kann. Daneben gibt es aber eine Reihe wissenschaftlicher Ausdrücke wie Solarkonstante, Insolation, Solstitium, solarisieren, Solarchemie, Solarium, in welchen der Wortteil sol „Sonne“ bedeutet, Okzidental: sole. Es wäre abwegig, statt dieses Wortes etwa suno (ein Esperantowort, gesprochen ßuno, vom englischen sun hergenommen, was aber ungefähr ßann zu sprechen ist) aufzunehmen, nur um dem obigen Prinzip zu huldigen.

Die Wissenschaft weist nach, daß die Sprachen vielmehr das Streben zur Mehrdeutigkeit (Polysemie) haben. Eine Sprache, die den Grundsatz absoluter Eindeutigkeit (Monosemie) durchgeführt hat, müßte Millionen Wörter haben und könnte daher gar nicht gesprochen werden. Selbst wenn eine künstliche Sprache heute streng monosemisch ist, würde morgen beim praktischen Gebrauch in der Öffentlichkeit dieser Grundsatz durchbrochen werden. Auch Esperanto kann also trotz radikalen Maßnahmen nicht alle Homonyme (d. s. gleichlautende Ausdrücke für verschiedene Begriffe) vermeiden. So hat z. B. die Esperanto-Wortwurzel bor gleichzeitig die Bedeutung „bohren“ (Okzidental forar, davon perforation) und „Bor“ (chemisches Element, Okz bor); „Paneuropa“ heißt in den Esperanto-Schriften allgemein Paneuropo; dieses Wort bedeutet aber „logisch“, wie man sich durch Nachschlagen in einem Esperanto-Wörterbuch überzeugen kann, nicht „Alleuropa“, sondern „Broteuropa“. Ferner kann nach den Regeln des Esperanto neebla ebenso „unmöglich“ wie auch „verneinbar“ bedeuten, ein Homonym, das gewiß zu Mißverständnissen Anlaß geben könnte.

Selbstverständlich muß besonders eine Weltsprache präzise sein und Homonyme nicht suchen, sondern womöglich vermeiden. Aber Esperanto und Ido durchhauen den gordischen Knoten mit Wortverbiegungen wie plateno für Platin (platino könnte nach der Meinung des Schöpfers des Esperanto mit „Frau Plato“ verwechselt werden), faruno für Mehl (das in den Quellsprachen nur mit dem Stamm farin vorhanden ist.), pordo für Tür (weil porto als Hauptwort von porti „Tragen“ bedeutet) usw.

Lautgemäße Schreibung

Ein ähnliches Vorurteil, das für die Entwicklung der Weltsprache sehr schädlich war, ist die starre Durchführung der Forderung: Ein Laut – ein Zeichen, ein Zeichen – ein Laut. Es gibt keine natürliche noch künstliche Sprache, die diesem Grundsatz restlos Genüge leisten könnte. Zamenhof hat in Esperanto den Buchstaben x verworfen, weil er zwei Laute darstellt, und er schreibt ks oder kz statt x. Dieses Bedenken hatte er aber nicht beim Buchstaben c, der ts auszusprechen ist. Es wäre viel folgerichtiger und zweckmäßiger gewesen, in Esperanto neben eksperimento und ekzegezo (exegese) auch tsaro und nicht caro zu schreiben. In den Esperanto-Grammatiken wird u. a. verlangt, daß man n vor g und k mit der Zungenspitze spreche und deutlich vom folgenden g bzw. k trenne; dieser Forderung ist aber kaum nachzukommen, da alle Europäer das n in danko (Dank) und vango (Wange) mit dem Gaumen zu sprechen pflegen und es bei raschem und andauerndem Reden trotz der Esperanto-Regel auch stets derart, also mit dem Gaumen und nicht wie das Zungenspitzen-n in dento (Zahn) aussprechen.

Eine Sprache mit absolut phonetischer Orthographie (lautgemäßer Schreibung) müßte ein Alphabet mit über hundert Buchstaben haben, das in allen Buchdruckereien, Schreibmaschinenfabriken usw. einzuführen wäre; es ist sehr fraglich, ob sich die Gelehrten bei der Schaffung eines genügend einfachen, für den täglichen Gebrauch geeigneten Systems, eines sogenannten phonetischen Alphabetes überhaupt einigen könnten.

Die Einführung einer Weltsprache stößt schon auf genügend äußere Hindernisse, und es wäre nicht klug, diese Hindernisse noch von innen heraus leichtfertigerweise durch Aufstellung rationalistisch-theoretischer Prinzipien zu vergrößern, deren praktischer Wert, wie wir im folgenden zeigen, nur scheinbar ist.

Doppelte Aussprache des Buchstabens c

Die doppelte Aussprache des c in Okzidental ist bei internationalen Wörtern wie concert, criticismus allgemein bekannt. Trotzdem Italienisch und Spanisch ihre Orthographien stark phonetisiert haben, gingen sie bei der Schreibung des c doch nicht so weit, wie etwa die neue deutsche Rechtschreibung. Beim schriftlichen Erlernen einer Fremdsprache, und dies kommt ganz besonders bei der Weltsprache in Betracht, ist der Hinweis auf den etymologischen Zusammenhang der Wörter (d. h. auf ihre Abstammungs- und Verwandtschaftsverhältnisse) eine große Erleichterung. Und gerade dieser Zusammenhang wird durch die phonetische Schreibung, insbesondere durch die Auflösung des c in zwei Buchstaben, k und c (oder z), zerrissen; man vergleiche hierzu auch tschechisches voják, vojáci (Soldat, Soldaten). Ein größeres Chaos als bei Esperanto herrscht auf diesem Gebiet bei Ido mit Wörtern wie: kritiko : kriticismo : kritikisto, aber katolika : katolikismo. In Okzidental ist durch die etymologische Orthographie (im weiteren Sinne auch historische Schreibung genannt) nicht nur der etymologische Zusammenhang der Wörter erhalten, sondern auch deren natürliche Aussprache: critic : critica : criticism, catolic : catolicism, electric : electricitá, publicist : publication, periodic : periodicitá, dublicat : dublicitá. Man kann nicht sagen, daß die einfache Ausspracheregel des Okzidental Slawen u. a. ernstliche Schwierigkeiten bereiten könnte: „c vor e, i, y ist wie ts auszusprechen, in allen übrigen Fällen k.“

Latino sine Flexione verlangt noch die alte lateinische Aussprache (c immer wie k): circa: spr. kirka, et cetera: spr. et ketera, concert: spr. konkert. Aber eine derartige unmoderne Aussprache ist ebenso unannehmbar wie die des Esp: paco: spr. patso, caro: spr. tsaro.

Vorteile der etymologischen Schreibung

Die Vorteile der etymologischen Schreibung sind so augenfällig, daß schließlich auch Lott und Rosenberger nach längerem Briefwechsel mit Wahl sie angenommen haben, obzwar sie sich in ihren ersten Entwürfen noch der phonetischen Schreibung bedienten. Schon im Jahre 1888 macht Lott darauf aufmerksam, daß die Internationalität der Wortformen vornehmlich in deren Schreibung besteht, nicht aber in ihrer Aussprache, die von Sprache zu Sprache bei gleicher Schreibung verschieden ist; so z. B. hat das Wort „Nation“ in den drei großen Sprachen Deutsch, Französisch und Englisch genau dieselbe Schreibung, wird aber „natsion, nassion(g) bzw. nejschn“ ausgesprochen. Da eine Internationalität der Aussprache nicht besteht und die Orthographie der internationalen Wörter in den großen Kultursprachen fast gleich ist, liegt der Gedanke nahe, diese Orthographie beizubehalten und dann nachträglich die einfachste Aussprache in möglichst lauttreuem Einklang mit der feststehenden Schreibung zu wählen. Aber von einer Änderung der Schreibung, die den etymologischen Zusammenhang der internationalen Ableitungen mit den Wortstämmen der internationalen Sprache zerstört, kann bei der heutigen Sachlage ernstlich keine Rede sein. Miß Sylvia Pankhurst weist in der Schrift „Delphos“ The Future of International Language (London 1927) ein derartiges Verlangen als Vandalismus zurück, und die Engländer haben ihre guten Gründe, warum sie allen phonetischen Vereinfachungen ihrer Orthographie abhold sind.

Dieses Bestreben, die Originalschreibung beizubehalten, ist in allen modernen Kultursprachen bei der Aufnahme neuer Wörter aus anderen Sprachen zu bemerken. Die fremden Wörter werden in der Urschreibung aufgenommen, aber nach den eigenen Regeln der aufnehmenden Sprache ausgesprochen: z. B. E avoir-du-pois, spr. äwrdjupeus (Ursprung: F spr. awoardüpoá), F high-life, spr. igglif (Ursprung E, spr. hailaif), F five-o'-clocker, spr. fiwoklockée (Ursprung E five o'clock, spr. faiwoklock), D Humbug (Ursprung E, spr. hámbag). In jüngster Zeit bemüht man sich, unterstützt durch den Rundfunk, nicht nur die fremde Schreibung, sondern auch die fremde Aussprache beizubehaltn: D Jazz, spr. wie E: dschäs. Nur in den slawischen Sprachen, im Ungarischen, Finnischen usw., zum Teil auch im Deutschen wird die Originalschreibung des Fremdwortes durch die eigene, phonetische Schreibung ersetzt.

Doppelte Mitlaute

Die Schreibung der doppelten Mitlaute, durch welche Okzidental die vielen Wortentstellungen des Esperanto und Ido vermeidet, ist in den führenden Sprachen Europas gebräuchlich. Sie findet Verwendung:

  1. um kurze Selbstlaute zu bezeichnen (stopp, jett, ball);
  2. um verschiedene Wörter zu unterscheiden, z. B. Okzidental casse (Esp kaso) Kasse; Okz casu (Esp kazo) Fall; Okz currer (Esp kuri) laufen; Okz curar (Esp kuraci) heilen; Okz cann (Esp kano) Rohr; Okz cane (Esp hundo) Hund; Okz cussin (Esp kuseno) Kissen; Okz cusino (Esp kuzo) Vetter; Okz carre (Esp charo) Karren; Okz car (Esp kara) teuer; Okz stall (Esp stalo) Stall; Okz stal (Esp shtalo) Stahl;
  3. um scharfes s vom weichen s zu unterscheiden: Okz masse (Esp maso) Masse, Okz tasse (Esp taso) Tasse, Okz rasse (Esp raso) Rasse, Okz rose (Esp rozo) Rose.

Esperanto bedient sich bei der Schreibung dieser Wörter der polnischen Orthographie, aber die Beispiele zeigen, daß eine internationale Sprache mit vorwiegend romanischem Wortschatz (was auch Esperanto ist) nicht mit polnischer Orthographie geschrieben werden kann, wenn man nicht rätselhafte Grimassenwörter bekommen will.

Obligatorische Endungen

Verhängnisvolle Folgen hatte in der Weltsprache auch die Einführung der unnatürlichen obligatorischen Endungen für grammatische Kategorien (wie in Esperanto und Ido: -o für Hauptwörter, -a für Eigenschaftswörter usw.), eine Eigentümlichkeit, die in keiner Nationalsprache vorkommt, und deren praktischer und theoretischer Nutzen gegen die Nachteile kaum in Betracht kommt. Gerade die Hauptwörter, die aus den verschiedenartigsten Sprachen der Erde herkommen, können am wenigsten eine derartige Beschränkung und Etikettierung ertragen, vgl. Esp shaho (persisch und Okz shah), Esp pashaho (pashá), orangutano (malaiisch orang-utan), emuo (neuseeländisch emu), kanguruo (australisch cangurú), kolibro (karaïbisch colibrí), kvago (hottentottisch quagga), nadiro (arabisch nadír), husaro (ungarisch huszár), gejsho (japanisch gheisha), nirvano (indisch nirvana), edelvejso (Edelweiß). Die Wortendungen -o und -a sind den meisten Europäern zur Bezeichnung des männlichen und weiblichen Geschlechtes geläufig: Angelo und Angela, Paulo und Paula, Romeo und Julia usw. In dieser Rolle werden auch die beiden Laute bei Lebewesen im Okzidental, wie in den südromanischen Sprachen, verwendet. Im übrigen können verschiedene Endungen in natürlicher Weise zur Unterscheidung ähnlich lautender Wörter verwendet werden, z. B. Okz sol und sole (allein und Sonne, Esp sola und suno), Okz númere und numeró (Zahl und Nummer, Esp nombro und numero), Okz posta und posto (Post und Posten, Esp poshto und posteno) usw.

Bedeutung der Ableitsilben

Ein Gebiet der Weltsprache, das besondere Sorgfalt erfordert, ist das der Ableitsilben (Affixe). Es ist leicht, ein schlecht gewähltes Wort durch ein anderes zu ersetzen; aber ein mißverstandenes, schlecht angewandtes Affix oder eine falsch gefaßte Regel kann Hunderte und Tausende internationaler Wörter entstellen. Unter allen Interlinguisten hat Wahl dieses Gebiet am gründlichsten erforscht und die Bedeutung der zum Großteil dem Latein entstammenden Affixe formuliert. Wahl ergründete den Sinn der Affixe nicht nur an Hand einiger Beispiele, sondern an allen bestehenden Wörtern, die diese Affixe enthalten, während die Spracherfinder sich zumeist mit einer oberflächlichen Beobachtung zufrieden gaben. Als sie aber beim Gebrauch auf Unstimmigkeiten stießen, taten sie die Sache einfach mit der Erklärung ab, die natürlichen Sprachen seien unlogisch und chaotisch und daher unregulierbar.

Im folgenden seien nur einige Beispiele angeführt, um zu zeigen, wie Wahl bei der Erforschung dieses Gebietes vorging.

Esperanto gibt der Nachsilbe -ist die Bedeutung einer Person, die sich beruflich mit dem im Stamm Dargestellten beschäftigt, z. B. redaktisto (Schriftleiter), frizisto (Friseur), lavistino (Wäscherin), konstruisto (Erbauer), libristo (Buchhändler). Aber eine genauere Untersuchung zeigt, daß die ursprüngliche Bedeutung von -ist die des Namens einer Person ist, welche sich mit einem „ismus“ beschäftigt, und zwar in geistiger, religiöser, politischer, wissenschaftlicher, künstlerischer oder sportlicher Richtung, z. B. altruist, pacifist, esperantist, terrorist, solist. Um handwerksmäßige Berufe, Gewerbe zu bezeichnen, zieht man -eur, -er u. a. (Okz -ero) vor, Okz: frisero (Friseur), lavera (Wäscherin), marinero (Seemann), colportero (Wanderverkäufer) usw.

Esperanto und Ido benützen das Suffix -in, um das weibliche Geschlecht anzuzeigen: viro Mann, virino Frau; knabo Knabe, knabino Mädchen. Die Untersuchung der internationalen Wörter auf -in zeigt jedoch, daß -in in diesen Wörtern Herkunft andeutet: marin (von mare, Meer), alpin, serpentine (Okz serpent, Schlange), argentin, Argentinia (argent, Silber), rubin (Okz rubi, rot), Okz savagine, F sauvagin, I salvaggine, S salvagine, Wildbret (von Okz savagi, F sauvage usw., wild), Okz aurin, I aurino golden (aur Gold), Okz quercin, I quercino, eichen (Okz querc, I quercia, Eiche), Okz infantin, F enfantin, kindisch (Okz infant, F enfant, Kind), Okz ferrin, altfranz. ferrin, eisern, (Okz ferre, Eisen). Man findet dieses Suffix mit derselben Bedeutung auch in E leathern, D ledern, altdeutsch lederin, D, E golden von guldin, Sogar Esperanto hat die richtige Bedeutung von -in verborgen in fibrino Faserstoff (Esp fibro, Faser), enthalten.

Wahl gewann das Okzidental-Suffix -aci mit der Bedeutung „geneigt zu“ aus Wörtern natürlicher Sprachen wie I mordace, P mordaz, E mordacious (bissig, Okz mordaci, von morder beißen), F, I tenace, S, P tenaz, E tenacious (zäh, Okz tenaci von tener halten); F, I vivace, P vivaz, E vivacious (lebhaft, Okz vivaci von viver leben); F, I vorace, P voraz, E voracious (gefräßig, Okz voraci von vorar fressen); I verace, P veraz (wahrheitsliebend, wahrhaftig, Okz veraci, von ver wahr); I (uccello) ramace Ästling (Vogel) von I ramo Ast. An Stelle des Okzidental-Suffixes -aci findet man in Esperanto und Ido die Endung -em (con F aimer, lieben): mordema (Okz mordaci) usw.

Um den Begriff der Möglichkeit auszudrücken, nahm Zahmenhof die Form -ebla gewissermaßen als Mittelform von -abl und -ibl, z. B. ekspansiebla (Okz expansibil), transportebla (Okz transportabil). Dank besserer Wahl des Zeitwortstammes im Okzidental können nun die natürlichen internationalen Formen mit dem einzigen Suffix -bil (unbetont) erhalten werden: Okzidental curabil (Esp kuracebla) heilbar, von curar heilen; infallibil (Esp neerarpova, Ido infalibla und nefaliebla) unfehlbar, von fallir verfehlen. Die Silbe heißt nicht -bl sondern -bil, weil davon weiter abgeleitet wird: ama-bil-itá Liebenswürdigkeit (Esp amindeco), ínfalli-bil-itá Unfehlbarkeit (Esp neerarpoveco) usw.

Das Okzidental-Suffix -on wird für Personen und Dinge verwendet, die durch die im Stammwort ausgedrückte Eigenschaft gekennzeichnet sind. Diese Silbe -on ist vorhanden in F fanfaron (Prahler, Okz fanfaron, von fanfare Hornruf), davon das Okzidental-Zeitwort: fanfaronar prahlen; F fripon (Schelm, Okz fripon, frip Gelump); S miron (Gaffer, Okz miron, mirar schauen) davon Okz mironar gaffen; spion (Okz spiar spähen), davon: spionar spionieren; F hérisson Igel (herisser sträuben); I pedone Fußgänger (Okz pedon, pede Fuß); Okz patron (patre Vater); S dormillon Schläfer (dormir schlafen). Esperanto benützt in ähnlicher Bedeutung die alte Verkleinerungssilbe des Latein -ul: barbulo (Bärtiger; Okz barbon, barbat), vertebrulo (Wirbeltier, vertebrate) virgulino (Jungfrau, virgina).

Von esperantistischer Seite wurde dem Okzidental vorgeworfen, daß es zu viel Suffixe habe. Aber Wahl hat kein einziges Suffix erfunden; er sammelte bloß eine Anzahl internationaler Elemente, stellte ihre natürliche Bedeutung fest, brachte sie in unser Bewußtsein und empfahl sie dem Gebrauch. Was in einer Sprache nicht lebensfähig ist, stirbt von selbst ab. In allen Sprachen veralten allmählich einzelne Formen und kommen schließlich ganz außer Gebrauch. Nicht alle lateinischen Suffixe sind allgemein lebend; einige werden nur in besonderen Ausdrücken verwendet, wie z. B. -nd (nicht -enda wie im Esperanto-Ido, auch nicht -and) in: multiplica-nd (die zu multiplizierende Zahl, integrand (der zu integrierende Ausdruck), confirmand (Firmling), examinand (Prüfling), doctorand (cand. Dr.), preparand (Vorzubereitender), curand (Pflegling), demonstrand (was zu beweisen ist), dividend (die zu teilende Zahl), dividende, minuend usw. Auch die meisten griechischen Affixoide werden nur in der Wissenschaft benützt und haben daher nur für die betreffenden Fachleute Wert, wie epi- (auf, L super), eu- (gut), hyper- (über, L super), hypo- (unter, L sub), homo- (selb), iso- (gleich), kako- (schlecht), kalli- (schön), meta- (hinüber, L trans), neo- (neu, L nov), ortho- (recht, L rect-), pan- (all, L omni), para- (neben), pasi- (an alle), peri- (herum, L circum), poly- (viel, L mult-), proto- (erst, L primo), pseudo- (falsch), syn- (mit, L co-), tele- (fern), -oid (ähnlich), -phil (Freund), -phor (Träger) usw.

Wissenschaftliche Forschungsmethode

Bei der Schaffung der Weltsprache sind keine Prinzipien zu dekretieren oder erdachte Formen einzuführen, wie etwa im Esperanto die willkürlichen Ableitsuffixe oder die Endungen der Zeitwortabwandlung: -as für die Gegenwart, -is für die Vergangenheit, -os für die Zukunft oder die von Zamenhof erfundene sogenannte Korrelativtabelle kiu (wer), kie (wo), kiom (wieviel), tial (darum), tiom (soviel), chio (alles), chiuj alle usw.

Bei der Schaffung der internationalen Sprache war es vor allem nötig, all das zusammenzutragen und zu registrieren, was bereits internationales Gemeingut ist, ohne Rücksicht darauf, welchen Ursprungs es ist. Die Gesetze der Sprache müssen dann so aufgebaut werden, daß so viel wie möglich von dem gemeinsamen kulturellen Sprachgut in der bekannten Form erhalten bleibt. Alle Sprachschöpfer, die einen anderen Weg gingen in der irrigen Meinung, das Bestehende nicht beachten, ja ignorieren und übersehen, ja vernichten zu können, mußten Schiffbruch erleiden.

Es ist ein Irrtum zu glauben, den Armen durch Vernichtung des Besitzes der anderen helfen zu können. Die Ausmerzung des bestehenden wissenschaftlichen Wortschatzes griechisch-lateinischen Ursprungs, wie es durch Esperanto geschehen würde, wäre fast gleichbedeutend mit einem Niedergang der europäischen Geisteskultur. Die Kulturwerte sind zu eng mit ihren traditionellen Bezeichnungen verbunden. Nur durch Neuschöpfungen von Begriffen und derart auch durch neue Wörter, können die übrigen Nationen die Weltsprache bereichern, nicht aber durch gewaltsame Verdrängung und Zerstörung. Wenn z. B. ein Forscher eine Reihe neuer Pflanzen findet, welche sich nicht in den Rahmen der bestehenden Klassifikation einreihen lassen, wird er nicht sagen, dies sei eine Laune der Natur, die Natur sei blind und unlogisch; er wird die Pflanzen auch nicht ausrotten wollen, nur um die Klassifikation zu retten.

Durchsicht des internationalen Wortschatzes

Hand in Hand mit der Erforschung der Suffixe nahm Wahl eine gründliche Durchsicht des internationalen Wortschatzes vor. Viele unrichtig gewählte Wörter des Esperanto wurden bereits im Ido ausgeschaltet. Die lexikalischen Arbeiten der Ido-Akademie sind die einzigen Leistungen dieser Körperschaft, die zum Teil nutzbar sind. Allerdings ist auch in Ido ein Großteil der internationalen Wörter durch die Übernahme der Zwangsjacke der grammatischen Wortendungen und durch falsch angewandte Nachsilben des Esperanto entstellt worden. Ido ersetzte: Esp ansero (nur L anser) durch ganso (D Gans, S ganso, P ganso, E goose, Schwed. gås), Esp sed (nur L sed) „aber“ durch ma (I ma, S mas, P mas, F mais, Ho maar, Schwed. men), kaj (nur griech.) „und“ durch e.

Weltsprache und europäische Sprache

Ido wählte die Wörter seines Lexikons nach dem von Professor Jespersen aufgestellten Grundsatz der größten Internationalität: „die größte Leichtigkeit für die meisten Menschen“. Wahl präzisierte den Grundsatz weiter: „die größte Leichtigkeit für diejenigen, die in internationalen Beziehungen stehen“. Wenn die Zahl der Menschen allein ausschlaggebend wäre, dann müßte ja die Weltsprache vorwiegend chinesisch sein. Heute sind sich aber schon alle ernsten Vertreter der Weltsprache, selbst im Orient, einig, daß diese Sprache vorwiegend europäischen oder allgemeiner gesagt okzidentalen (abendländischen, europäisch-amerikanischen) Charakter zu tragen hat. Denn der größte Teil des internationalen Wortschatzes ist okzidentalen Ursprungs und die herrschende Weltzivilisation ist heute noch abendländisch. Eine Allerweltssprache zu schaffen, die alle Sprachen der Erde berücksichtigt, ist eine Utopie. Die Teilnahme der orientalischen und anderer nichteuropäischer Völker im heutigen internationalen Verkehr (Handel, Reisen, Wissenschaft, Technik, Industrie, Kongresse, Politik) ist so unbedeutend, daß sie praktisch kaum in Betracht kommt. Was wir heute dringend brauchen, ist ein Verständigungsmittel für Europäer, die derzeit allein die Vertreter des modernen, internationalen Lebens sind und dessen Gesetze und Formen bestimmen. Die Nichteuropäer sind schon durch diese Umstände gezwungen, eine europäische Sprache zu lernen, wennn sie sich mit anderen zivilisierten Menschen verständigen wollen. So schreiben die Japaner ihre wissenschaftlichen Werke in englischer oder deutscher Sprache und nicht japanisch oder chinesisch.

Zamenhof nahm die Wörter des Esperanto aus den größten europäischen Sprachen: Französisch, Deutsch, Englisch, auch aus Polnisch und Russisch, z. B. nepre (verstümmeltes R nepremenno) für „unbedingt“, Okzidental: absolut. So ist auch Esperanto gewissermaßen eine europäische Sprache und nicht eine Allerweltsprache, wie man oft dem Okzidental gegenüber mit Unrecht betont. Erst in jüngster Zeit vernimmt man auch aus dem Lager der Esperantisten Stimmen wie die in „Heroldo de Esperanto“, wo es im Danziger Kongreß-Bericht heißt: „Esperanto ist eine wesentlich europäische Sprache. Diese Tatsache wird dadurch nicht beseitigt, daß z. B. die Tabellenwörter oder ähnliche Ausrücke nicht Natursprachen entnommen, sondern sozusagen aus der Luft gegriffen sind. Aber wenn Esperanto zugegebenermaßen eine wesentlich europäische Sprache darstellt, dann ist sie auch als solche zu behandeln und den natürlichen Sprachen anzunähern, statt gegenteilig zu verfahren, wie es einige versuchen. Gerade deswegen entstand die Spaltung in der Weltsprach-Bewegung, und gerade deshalb erschienen Ido und Okzidental“.

Der Schreiber dieses Berichtes beachtet allerdings nicht, daß durch die von ihm geforderte weitestgehende Europäisierung des Esperanto diese Sprache zerfallen muß. Denn neben den gut europäischen Eindringlingen bestehen dann noch die nach den eigenen Regeln des Esperanto gebildeten urständigen Ableitungen, wie aerflugisto und aviadisto neben aviatoro, delegitaro neben delegacio, direktistaro und direktoraro neben direkcio, garnajho neben garnituro usw. Gerade diese Doppelwörter verwirren den Nichteuropäer erst recht und setzen ihn außer Stande, sich in dem Wortspielgewirre zurechtzufinden. Esperanto ist dann werder eine europäische noch eine „Weltsprache“. Anders steht diese Frage bei Okzidental, dessen Regeln und Formen so gewählt wurden, daß sie nicht neue, fremdartige und rätselhafte Gebilde, sondern gerade die bekannten internationalen Ableitungen ergeben, die auch dem Nichteuropäer durchsichtig bleiben.

Weil Esperanto die internationale wissenschaftliche Nomenklatur ignoriert und seine eigene schafft, ist es von der Wissenschaft bisher immer zurückgewiesen worden. Okzidental hingegen übernimmt nicht nur diese Fachwörter in der bekannten Form, sondern macht sie durch sein Ableitsystem den Benützern erst verständlich. Es ersetzt somit in formaler Hinsicht das Studium des Latein und ist eine sichere Einführung in die Erlernung moderner Sprachen, wie Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch. Selbst angenommen, die allgemeine Einführung der Weltsprache erwiese sich nur als ein Traum, so bliebe der Bildungswert des Okzidental als durchsichtiger Kern der lateinischen Kultur ungeschmälert.

Innere Einheitlichkeit der Internationalsprache

Ein ästhetischer und praktischer Hauptfaktor in einer Sprache ist der Baustil ihrer Formen. Man könnte einwenden, daß künstlerische Rücksichten in einer Hilfssprache, die doch nur Verständigungmittel, Sprachbehelf, sozusagen ein Mechanismus ist, nicht ausschlaggebend sind. Aber das Künstlerische, Ästhetische usw. ist schließlich und endlich nichts anderes als die beste und wirtschaftlichste Anpassung des Mittels an den beabsichtigten Zweck. Auch eine Maschine muß in ihrem Aufbau einheitlich sein und je vollkommener sie ist, desto mehr nähert sie sich ästhetischen, schönen Formen. Man vergleiche nur einmal die ersten Lokomotiven oder Automobile, die den Kutschen nachgebildet waren, mit den modernen Formen der Schnellzugslokomotive und des Kraftwagens, und man wird feststellen, daß sie sich einem charakteristischen Standard-Endtyp nähern, der alles dem Leitgedanken Fremde ausschaltet.

So ist der innere Baustil der internationalen Sprache bereits durch den lateinischen Ursprung der überwiegenden Mehrzahl der internationalen Wörter gegeben. Es war daher ein arger Mißgriff Zamenhofs, deutsche nicht-internationale Wurzeln ins Esperanto so sorglos zu verpflanzen, wie in hundeca (hündisch), Okz canin, anstatau (anstatt), Okz vice, bedaurinda (bedauerlich), Okz regretabil. Solche „Ehrung“ des Deutschen muß jeden natürlich Empfindenden abstoßen. Überhaupt ist es, um den unangenehmen Eindruck einer Verbindung von Öl und Wasser zu vermeiden, vor allem notwendig, auf die charakterisierenden Endvokale des Esperanto zu verzichten. Dadurch wird die Einverleibung und Anpassung fremder Wörter stark erleichtert; jedenfalls aber muß man die phonetischen Gesetze des von vornherein gegebenen Wortschatzes befolgen. So kann man z. B. den Ausdruck „Schraube“ nicht in der Form übernehmen, wie es in Esperanto geschehen ist: shraubo. Okzidental hat dennoch dieses germanische Wort aufgenommen, wenn auch nicht in der deutschen, sondern in der skandinavischen Form: scruv, die sich dem Gesamtcharakter des Idioms besser einfügt. Innerhalb dieser Grenzen kann und soll man weitbekannt Wörter in die internationale Sprache einführen, seien sie nun deutschen, slawischen oder sonstigen Ursprungs. So können im Okzidental selbst germanische Wörter mit romanischen Suffixen wie trincard (Säufer), trincabil (trinkbar), mannic (männlich), die sich lautlich dem System stilgerecht einordnen, nicht so sehr als Zwitter und Fremdkörper empfunden werden, wie etwa ein knabino (Mädchen), bedaurinda (bedauerlich), fraulino (Fräulein) des Esperanto, um so weniger als solche Ableitungen in einer natürlichen Sprache wie im Englischen häufig vorkommen, z. B. drunkard (Säufer), drinkable (trinkbar), eatable (eßbar), talkative (gesprächig), free-lovism (Lehre von der freien Liebe), backwardation (Rückerstattung), womanize (verweiblichen) und andere mehr.

Okzidental hat andererseits eine Reihe germanischer (deutscher, englischer, skandinavischer und holländischer) Ausdrücke für Begriffe übernommen, wo Esperanto ohne zwingende Gründe romanische und andere Formen benützt, z. B. fox (Esp vulpo) Fuchs, helm (kasko) Helm, mann (viro) Mann, moss (musko) Moos, self (mem) selbst, segle (velo) Segel, sparro (pasero) Sperling, storc (cikonio) Storch, strax (tuj) sofort, svimar (naghi) schwimmen, svin (porko) Schwein, yelb (flava) gelb; ost (oriento) Osten, west (okcidento) Westen; zu den beiden letzten Wörtern sei bemerkt, daß im Okzidental wie im Deutschen orient und occident Morgenland bezw. Abendland bedeuten.

Stellt man alle germanischen Wurzeln der internationalen Sprache nebeneinander, so wird man finden, daß sie hauptsächlich technische und sonstige Sachbegriffe darstellen, während die romanischen mehr die geistigen, körperlichen und Naturbegriffe enthalten. Diese Verteilung entspricht der geschichtlichen Bedeutung eines jeden Volkes in der erreichten Kultur.

Ausdrücke für Begriffe der Wissenschaft und Philosophie sind meistens griechisch: anemie, biblioteca, catedre, diagnose, ethnologie, geografie, hypothese, icosaedre, metaphysica, neurasthenie, pleuritis, polymorphie, schisophren, sophisma, stoicism, theorema, theosophie, trigonometrie, zoologie;

des organischen und sozialpolitischen Lebens lateinisch: cap (Kopf), càrcer (Kerker), civil, commission, communism, conductor, construction, còrpore (Körper), manu (Hand), pede (Fuß), privat, republica, social, tutor (Vormund), vita (Leben);

der Musik und des Bankverkehrs italienisch: adagio, andante, forte, piano, violoncello; agio, bancrott, cassa, conto, giro, tratte;

der Gesellschaft und des guten Tons französisch: banquette, diné, hotel, matinée, menu, politesse, robe;

der Seefahrt nord- und westgermanisch: bote, busprit, clipper, foc, jib, land, lee, licc, luv, mast, ref, segle, steve, strand, stropp; styr, tacle, top, wach, yacht, yawl, yoll;

der Technik und Industrie deutsch: muff, nabe, spul, stal, staple, vind;

des Sportes englisch: box, champion, hokey, jokey, sport, start, tennis, turf.

Jedes Volk, das neue Kulturwerte schafft, gibt ihnen auch ihre Namen, und dieser Namen kommt dann zu den anderen Völkern gemeinsam mit dem neuen Gegenstand oder Begriff.

Auch exotische Völker haben zum Inventarium der internationalen Begriffe beigetragen, z. B.

persisch: bakshish, bazar, caravane, divan, jasmine, pashah, shah, turban;

indisch: aniline, calico, cámfor, indigo, punch;

hebräisch: àmen, cherub, delta, jeremiade, mammon, sabbat, seraf;

arabisch: admiral, alcohol, alcov, algebra, alhidade, arac, arsenal, benzoe, borax, cadi, café, carmesin, carmin, chiffre, coton, elixir, gazelle, giraffe, harem, kali, magasin, marabù, nabob, nadir, razzia, samum, senna, sheriff, sirocco, sofa, sórbet, sultan, talc, talisman, tara, tarif, tasse, zenit, zero, zuave;

türkisch: caftan, caviar, divan, fez, kiosk, tulip, turkis, yatagan;

chinesisch: kaolin, kotau, silk, té;

japanisch: bonze, gheisha, harakiri, jiu-jitsu, kímono, sámurai;

indianisch: alpacca, cacào, cannibal, canoe, chocolate, cigarr, cocain, colibrí, condor, copal, curare, guano, hamac, jaguar, lama, mais, maté, mocassin, palissandre, pampa, pirogue, puma, sassafras, squaw, tabac, tapioca, tomahawk, tótem, uragan, vicun'a, wigwam;

neger-amerikanisch: jazz

afrikanisch: chimpansé, gorill, tse-tse, zebre;

polynesisch: tabù, tatuar (tätowieren);

australisch: bumerang, cangurù, emu;

malaiisch: bambu, casuar, guttapercha, orang-utan, sago.

Soviel jeder von seiner eigenen Kultur gegeben hat, soviel erhält er zurück. Das ist die wahre Gerechtigkeit in einer „neutralen“ Sprache.

Da aber nun die internationalen Ausdrücke des Verkehrs, der Rechtsprechung, der Verwaltung und Politik, der Religion und Wissenschaft usw., die auf der Klassik und der römisch-christlichen Kultur ruhen, und zwar sowohl die älteren als auch die neueren Fachwörter immer noch dem Latein und Griechischen entnommen sind (siehe beim Radio: Antenne, Detektor usw.), so muß auch bei der Schaffung der internationalen Sprache mit dieser Tatsache gerechnet werden. Solche Wörter finden sich heute in allen europäischen Sprachen in größerer oder geringerer Menge, unter den germanischen Sprachen am meisten im Englischen, besonders in Ableitungen, wo das selbständige Wort germanischen Ursprungs ist, z. B. moon – lunar (Mond, Mondes-), sun – solar (Sonne, Sonnen-), woman – female (Frau, weiblich), dog – canine (Hund, Hunds-). Aber diese Methode ist unökonomisch und für eine internationale Sprache unbrauchbar, da sie für das Grundwort selbstverständlich die aus den Ableitungen bekannte Wurzel verwenden muß; für obige Ausdrücke stehen daher im Okzidental: lun – lunar, sole – solar, fémina – feminin, cane – canin. Es wäre der Höhepunkt von Chauvinismus, alle diese Wörter wegen eines mißverstandenen Neutralismus ausschließen und etwa statt einiger davon auch deutsche, slawische Wörter usw. aufnehmen zu wollen, etwa wie im Esperanto hundo statt cane.

Bei der Übernahme von Wörtern aus dem Englischen ist wegen der großen Unterschiede zwischen Schreibung und Aussprache besondere Vorsicht geboten. Esperantowörter wie najtingalo (E nightingale, spr. naitingel) Nachtigall und birdo (E bird, spr. börd) Vogel, zeigen Mangel an System in der Einverleibung.

Auch Ido, dessen Wörterbuch von einer Körperschaft zusammengestellt wurde, hat keinen einheitlichen Aufbau. Eine Sprache, deren Fundament von einem einzigen Mann aufgestellt wird, ist homogener, und ein genialer Kopf kann großartigere Werke schaffen als große Vereinigungen, wenn er nur die Erfahrungen seiner Vorläufer entsprechend berücksichtigt, d. h. wenn er wissenschaftlich arbeitet. Die Initiative geht vom Individuum aus. Körperschaften aber vervollständigen nur das fertige Werk, beseitigen seine Kanten und ebnen die Rauheiten.

Die Homogenität einer Sprache besteht demnach nicht darin, daß alle ihre Wörter einer einzigen Sprache entnommen werden, sondern sie ruht in ihrem inneren Baustil, dem alle Formen unterworfen sind, auch diejenigen fremden Ursprungs. Deshalb ist es verfehl, wenn Peano alle Wörter seiner Interlingua einzig und allein dem Latein entnimmt, auch dort wo sie nicht international bekannt und schon ausgestorben sind. Peano hat z. B. für Krieg das Wort bello (von L bellum), das nur noch in den zwei Ableitungen belligerante (kriegführend) und bellicoso (kriegerisch) lebt. Aber das Wort bell- in der Bedeutung Krieg ist heute aus allen romanischen Sprachen verschwunden und durch guerre und guerra ersetzt worden. Dieses Stammwort lebt in dem Weltwort guerilla (Kleinkrieg); daher hat auch Okz guerre, das übrigens verwand mit E war (D „Wirrwarr“) ist. Ferner ist die Wurzel bell- in der Bedeutung „schön“ allen Romanen geläufig.

Die internationale Verständlichkeit der Wörter muß unmittelbar sein, nicht nur für Lateiner, sondern auch für andere gebildete Menschen ohne lateinische Vorbildung. Mit Latein allein kann man nie zu einer modernen internationalen Sprache gelangen, die gut ein Drittel nicht-lateinischer Ausdrücke enthält. Ungefähr die Hälfte aller lateinischen Wörter ist für immer tot und kann nicht mehr zum Leben gebracht werden. Das Rad der Geschiche läßt sich nicht zurückdrehen. Nie wieder kann die alte Bedeutung von copia (Menge), charta (Papier), lapis (Stein), classis (Flotte) usw. aufleben.

Es ist bekannt, daß selbst Latein, besonders das Latein der Wissenschaft, viele Elemente vom Griechischen übernommen hat. Es wäre ein eitles Bemühen, die Sprache der Wissenschaft nun in der Richtung reinigen zu wollen, daß man allgemein eingeführte griechisch-lateinische Zwitterformen wie Automobil (G autós + L móbilis), Television (G tele + L vísio), Glazialgeologie (L glacialis + G ge + G logia) durch rein griechische oder rein lateinische ersetzte. Das rein-griechische Teleskopie hat schon eine andere Bedeutung als Television, und Krystallogeologie für Eis(zeit)geologie wäre sehr irreführend, denn nur die Griechen verstehen unter „krystallos“ Eis, während die übrigen Europäer auf Kristall raten würden.

Die Sprachen sind in stetem Wandel begriffen, wenn auch nicht so sehr in der Lautung, so doch in der Bedeutung. So verstand man vor dem Krieg unter Sanktion eine Art Weihe oder Genehmigung; daß man aber unter Sanktion heute etwas ganz anderes versteht, ist bekannt. Der Wortbestandteil Radio bedeutet heute in den Ausdrücken Radioamateur, Radiotelegraphie etwas anderes als in Radioaktivität oder Radiotherapie. Proteste gegen diese Erscheinungen im Sprachleben vermögen nicht mehr als Schreie der Krähen im Sturme. Ein Wort erklärt nicht den Begriff, den es darstellt, sondern ist eine Etikette mit einem Zeichen, das nur dem Vertrauten nach Übereinkommen und Überlieferung verständlich ist. So bedeutet D Dampfer „Dampfschiff“ und nicht Lokomotive, obzwar dem Landbewohner diese Bedeutung näher läge. Auch im Esperanto ist es ein bloßes Übereinkommen, daß vagonaro (silbenmäßig übersetzt: Wagensammlung) nicht Wagenpark, sondern Zug bedeutet, obzwar erstere Auslegung durch Analogie zum Esperantowort homaro (Menschheit) voll gerechtfertigt wäre. Auch im Esperanto sind die Ableitungen vielfach einzeln zu lernen, so wie Wurzelwörter. Es hat daher wenig praktischen Wert, daß man im Esperanto für öffnen malfermi sagen muß, was ein Franzose eher als „schlecht schließen“ verstehen würde.

Analytische Methode der Konjugation

Es ist unmöglich, für die Zeitwortabwandlung genügend internationale Anhängesilben zu finden. Wer Esperanto nicht kennt, dem werden die willkürlichen formen amos (werde lieben), venus (würde kommen) usw. stets unverständlich bleiben. Man wird in Wörtern wie salutos, portos, spionas, dementis, perlas, cirkulos eher die Mehrzahl von saluto, porto, spiona, dementi, perla, circulo vermuten als verschiedene Zeitformen von Esp saluti (grüßen), porti (tragen), spioni (spionieren), dementi (berichtigen), perli (perlen), cirkuli (kreisen); denn die Endung -s, die im Esperanto das finite Verbum kennzeichnet, ist international als Mehrzahlzeichen bekannt; sie ist ja zu finden im Englischen, Spanischen, Portugiesischen, Französischen, Holländischen, auch im Deutschen, u. zw. hier außer in Fremdwörtern (Autos, Chansons, Genies, Kinos, Moskitos, Mottos) auch in der Umgangssprache (Jungens, Mädels usw.).

Wahl hat die Schwierigkeiten der Zeitwortabwandlung durch Anwendung der analytischen Methode (der zergliedernden Vorgangsweise) in sinnreicher Art vermieden. Die größte Klarheit der Sprache wird erreicht, wenn die Wörter möglichst unverändert, d. i. so, wie sie im Wörterbuch stehen, verwendet werden, während die verschiedenen Abwandlungssilben die eigentliche Wortwurzel sozusagen beschatten und unsichtbar machen. Das Äußerste an Analytismus haben das Chinesische und das Englische geleistet, beides Sprachen hoher Kultur. In vielen anderen Sprachen ist dieselbe Entwicklungstendenz vorhanden. Eine Sprache, die das Verständigungsmittel für den gesamten Weltverkehr werden soll, darf nicht allzu lange Wortbildungen haben, weil darunter nicht nur ihre unmittelbare Verständlichkeit, sondern auch ihre leichte Anwendbarkeit leiden müßte. In der Biegung des Hauptwortes ist der Analytismus schon so allgemein, daß er auch in der Weltsprache ziemlich bekannt ist (Esperanto: de Dio für: Gottes). Aber in der Abwandlung des Zeitwortes ist Okzidental noch viel analytischer als Esperanto. Das schließt noch einen weiteren Vorteil in sich. Alle natürlichen Srpachen haben eine große Anzahl unregelmäßiger Formen und dies gerade in der Abwandlung häufig gebrauchter Zeitwörter. Für ihre Regularisierung erweist sich die analytische Art des Okzidental am geeignetsten, während die unnatürlichen Anhängsel in Esperanto (amis liebte), oder in Idiom Neutral (skribav schrieb) jeden Sprachenkenner abstoßen.

Professor Guérand weist in seinem Buche „A Short History of the International Language Movement“ darauf hin, daß die unbetonten Zeitwortendungen -as, -is, -os, -us des Esperanto sich im Gebrauch später abschleifen und daher sehr ähnlich lauten werden. Betonte Silben sind geeigneter, die Zeiten auszudrücken, vgl. Okz yo ama, yo va amar, yo ha amat, yo vell amar (ich liebe, werde lieben, habe geliebt, würde lieben).

Ein weiterer akustischer Fehler des Esperanto ist, daß es ähnlich lautende Fürwörter hat: mi ich, vi du, ni wir, li er, shi sie, ghi es. Die Okzidental-Fürwörter yo ich, tu du, il er, illa sie, it es, noi wir, vu ihr, illi sie, können z. B. im Fernsprech- und Rundfunkverkehr viel leichter unterschieden werden.

Leichte Erlernbarkeit

Ein geflügeltes Wort ist das von der leichten Erlernbarkeit des Esperanto, welche sein Verfasser dadurch zu erreichen suchte, daß er ein möglichst einfaches grammatische Gerüst aufstellte und die Zahl der Wurzelwörter auf ein Mindestmaß beschränkte, indem selbst die Häufigkeitsbegriffe durch Ableitung dargestellt werden, wie mallonga (kurz), malbona (schlecht), maldekstra (links), malgranda (klein), patrino (Mutter). Durch diese zu weitgehende Rücksicht auf die Aufnahmefähigkeit des Schülers wurde der Teufel durch Beelzebub ausgetrieben. Die Sprache wurde so in ihrer Anwendung nur noch umständlicher. Die Dauer der Benützung der Weltsprache wird wohl zumindest hundertmal länger sein als die ihrer Erlernung. Die zur Erwerbung der Sprache erforderliche Zeit ist ohnehin so kurz, daß es wirklich keine Rolle spielt, wenn man einige Stunden mehr verwendet, um sich für Begriffe, die man sein Leben lang täglich und stündlich braucht, kurze Wurzelwörter anzueignen. Ferner ist die Leichtigkeit einer Grammatik nicht nach der größeren oder kleineren Anzahl ihrer Regeln und nach der Einfachheit ihrer Fassung zu beurteilen, sondern wiederum nur nach der praktischen Anwendbarkeit. Es ist doch z. B. viel leichter, nach fünf Regeln, aber der Gewohnheit gemäß zu sprechen, als nach einer einzigen Regel, jedoch gegen die Gewohnheit. Die zwei oder drei Betonungsregeln des Okzidental sind zusammen, weil natürlich, viel leichter anwendbar als die eine einzige, unnatürliche Regel des Esperanto. Wir sind gewohnt rádio, státue, famílie zu betonen; im Esperanto stolpern wir immer wieder über radio, statuo, familio usw.

Fundament der internationalen Sprache

Es wird vielfach, und mit Nachdruck, darauf hingewiesen, daß es ein wichtiger sozialer Faktor für den Bestand der Weltsprachbewegung ist, eine feste und unveränderliche Sprachgrundlage zu haben, die Zamenhof für Esperanto in seinem „Fundamento de Esperanto“, dem Buch der Bücher dieser Sprache, aufgestellt hat, das für jeden Esperantoschriftsteller maßgebend und unantastbar sein muß. Dieses immerhin aus willkürlichen Verfügungen des Schöpfers bestehende Fundament wird von der mehr oder weniger strengen Disziplin der Anhänger bewacht und erhalten. Das Fundament des Okzidental hingegen sind die lebenden internationalen Wörter und die daraus erschlossenen Gesetze. Diese natürliche Grundlage ist viel sicherer und stabiler als die von Zamenhof aufgestellten Prinzipien, die verlangen, daß wir z. B. internacia, nepre und cheestanta sagen müssen statt international, absolut, present. Okzidental stützt sich auf die Gewohnheiten von Hunderten von Millionen Europäern und Amerikanern während einhunderttausen Esperantisten diese Menschen bewegen wollen, gegen Natur und Herkommen zu sprechen.

So sehr Okzidental in vielen Punkten der bisherigen Anschauungen über eine Weltsprache geradezu etwas Umwälzendes darstellt, so ist es dennoch das erste und einzige System einer internationalen Sprache, das den wissenschftlichen Forschungsergebnissen über die Psychologie der Sprache Rechnung trägt.

Okzidental ist nicht nur die Erfüllung der Forderungen der modernen Sprachwissenschaft, sondern auch zugleich die Brücke zur Verständigung zwischen den beiden, sich heute noch fremd gegenüberstehenden Gebieten: Der Sprachwissenschaft und Weltsprachforschung, der Linguistik und Interlinguistik.