Von Edgar von Wahl, Reval
aus: Occidental – die Weltsprache, Stuttgart (Franckh’sche Verlagshandlung) 1930.
Es ist nicht nötig, besonders darauf hinzuweisen, in welch trostlosem Zustand der Verwirrung Europa sich noch heute befindet, und wie der Irrwahn der Eifersucht und des Hasses zwischen den Staaten und innerhalb der Staaten, einerseits zwischen den einzelnen sie bewohnenden Nationalitäten und andererseits zwischen den verschiedenen Klassen desselben Volkes, wütet. Von jeher war es vielfach das Bestreben der zur Führung Berufenen, diese Kampfspannungen auszunutzen, um den Machtbereich in die Weite oder Tiefe zu vergrößern. Nach innen geschah dies durch polizeiliche Maßnahmen, nach außen durch Eroberung, um innerhalb des Tätigkeitsbereiches Ruhe und Entwicklungsmöglichkeit zu haben. So sehen wir diese Bestrebungen in den großen Kulturen verwirklicht. China, das typisch friedliche und arbeitsame, löste das Problem durch seine große Mauer, die es von seinen Soldaten gegen räuberische Einfälle bewachen ließ; Rom, das typisch militärische, indem es alle unruhigen Nachbarn allmählich unterjocht und in den Machtkreis des Reiches einbezieht, somit die „Pax Romana“, den Römischen Frieden, innerhalb der damaligen zivilisierten Welt schafft und damit praktisch für das Römische Reich, wenn man von Grenzgeplänkeln absieht, den Krieg abschafft.
Gleichzeitig mit diesen äußerlichen Machtmitteln geht Hand in Hand die Auswirkung der großen Staatsschrift oder Staatssprache, die alle Angehörigen des großen politischen Ganzen benützen und wodurch die Verwaltung solcher ungleichartiger Bezirke erst ermöglicht wurde, und zwar in China durch die gemeinsame Schrift, die von jedem der Völker Chinas in seiner eigenen Sprache gelesen wird (so wie etwa heute alle Mathematiker die mathematischen Formeln verstehen, aber verschieden aussprechen) und in Rom durch Schrift und Sprache des Imperium Latinum.
Aber auch alle anderen Kulturen, die sich ausbreiteten, wirkten sprachlich auf die Umgebung; so hat es jederzeit Weltsprachen gegeben, die in allen Zentren des Völkerverkehres verstanden wurden, in den ältesten Zeiten der Mittelmeerkulturen das Phönizische, dann das Griechische, das noch tief in die Herrschaftszeit Roms hineinreichte, als Sprache der Gebildeten und des Handels, der Diplomatie und der Wissenschaft. Als Griechisch durch das Latein ersetzt wurde, überlebte letzteres für lange Zeit die weltliche Herrschaft Roms, indem es die Sprache der Kirche und die internationale Sprache des Mittelalters wurde, die sich noch bis in das vorige Jahrhundert erhalten hat. Unterdessen war entsprechend der großen politischen Bedeutung Frankreichs das Französische zur internationalen Sprache der Diplomatie und der höheren Gesellschaft geworden. Mit den Eroberungen Rußlands, besonders auch in Asien, erhielt das Russische die Bedeutung einer Verkehrssprache zwischen den verschiedenen Völkern dieses großen Reiches und ist auch noch jetzt wirksam. In den Verhandlungen zwischen den Randstaaten, Polen, Litauen, Lettland, Estland ist meist Russisch die diplomatische Verhandlungssprache gewesen. – Dank den wissenschaftlichen und technischen Fortschritten Deutschlands wurde auf diesen Gebieten die deutsche Sprache stark verbreitet; sogar Japaner schreiben wissenschaftliche Werke in deutscher Sprache. Durch die Ausbreitung des Machtbereiches Englands und seines Welthandels wurde Englisch immer mehr zur Weltsprache der außereuropäischen Länder, und nach dem Kriege ist ein starkes Anwachsen der Kenntnis der englischen Sprache auch auf dem europäischen Kontinent zu bemerken.
Wie wir sehen können, sind bisher die natürlichen Weltsprachen immer dank der Vorherrschaft, Kraft und Tüchtigkeit einzelner Völker den andern Völkern freiwillig oder unfreiwillig aufgezwungen worden. Unterdessen aber hat sich die Voksseele im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr verändert. Gewalt und Diktatur sind im Bewußtsein der Völker als unbrauchbares Mittel gefühlt worden, und es wird nun schon seit Jahrhunderten daran gearbeitet, sie durch soziales Empfinden und Selbstverantwortlichkeit zu ersetzen.
Zu Zeiten Babylons oder Ägyptens war ein derartiges Empfinden nicht vorhanden, wie man auch aus dem Alten Testamen, z. B. dem Buche Daniel konstatieren kann. Auch die brutalste Willkür der königlichen Gewalt wurde nicht mit Empörung, sondern bloß mit Furcht und Ergebung beantwortet; die Gesetzmäßigkeit der Macht als solche stand außerhalb der Erörterung; nur ihren Wirkungen suchte man sich zu entziehen.
Heutzutage, wie gesagt, fühlen die Völker, besonders nach dem Erwachen des Nationalgefühls, es als unerträglich, sprachlich vergewaltigt zu werden. Besonders ist dies aber nach dem Weltkrieg fühlbar geworden. Dutzende kleiner Sprachen sind aufgewacht, von denen man früher keine Ahnung hatte, und jeder kleine Duodezstaat hat seine eigene Sprache und will die großen nicht mehr verstehen. Alle Inschriften an öffentlichen Orten werden ausschließlich in der eigenen Nationalsprache erlaubt, und den Beamten ist es vielfach sogar verboten, mit dem Publikum in einer anderen, beiden verständlichen Sprache zu verkehren.
Die Pflege der Muttersprache ist gewiß etwas Schönes. Sinnlos ist nur, sie in internationalen Beziehungen hervorzukehren und sie von Nichtstammesgenossen zu verlangen. Wenn eine zusammengedrückte Feder plötzlich losgelassen wird, schnellt sie bekanntlich über die Normallage hinaus. So auch hier. Schon in den Zeiten vor dem Krieg hatte man mit den vielen Sprachen seine Plage. Allerdings kam man in den großen Städten Mittel- und Westeuropas mit der Kenntnis von Deutsch, Französisch, Englisch einigermaßen aus. Aber mehr und mehr zeigte sich die Notwendigkeit, auch noch Spanisch, Russisch, Italienisch zu beherrschen, und wenn man sich in einer Gegend niederließ, deren Bevölkerung eine andere Sprache redete, so mußte man sich auch mit dieser Sprache bekannt machen. Das alles erforderte viel Zeit und Studium, die anderwärts besser hätten angewandt werden können.
Jetzt aber sind die Zustände schon recht unerträglich geworden, jedoch bergen sie große kulturelle Zukunftswerte: Europa ging einem Zustand entgegen, wo all die kleinen Sprachen und Mundarten von den großen Nationalsprachen allmählich wären aufgesogen worden. Die ersteren werden häufig nur noch von der Bauernbevölkerung gesprochen und gelten daher für ungebildet und roh. In manchen Staaten wurden sogar selbständige Sprachen, wie z. B. in Rußland das Ukrainische und Weißrussische, in Frankreich das Provenzalische, in Spanien das Katalanische usw. zu bloßen Dialekten gestempelt, die nach Möglichkeit unterdrückt wurden. In Rußland durfte man z. B. keine ukrainischen Bücher drucken. Noch ein weiteres Jahrhundert im Stile der Vorkriegszeit, und die Dialekte und Lokalsprachen wären vom Erdboden verschwunden, auch ohne Zwangsmaßnahmen der Regierungen. Ein Aufsaugen der kleinen Privatsprachen durch die großen reichen Verkehrssprachen findet statt, gleichwie die kleinen Privatbetriebe durch die großen Fabriktruste aufgesogen werden, eine Erscheinung, die folgerichtig, aber bedauerlich ist, wegen der verloren gehenden Gefühlswerte, die auszudrücken die kleinen Lokalsprachen unendlich viel befähigter sind als die großen Weltsprachen, Allerweltssprachen, die zwar an Präzision, Einfachheit und Umfang jene bedeutend übertreffen, aber an feiner Nuancierung ihnen nie gleichkommen können. Auch innerhalb eines Sprachgebietes, wie es das deutsche ist, wird wohl jedem aufgefallen sein, wie man für den intimen Verkehr seinen Heimatdialekt dem Bühnenhochdeutsch vorzieht.
Und nun sind plötzlich all diese kleinen Sprachen demokratisch gleichberechtigt geworden und gebärden sich wie die Neureichen nach dem Kriege, einerseits überheblich, andererseits mit Macht danach strebend, die Gesellschaftsfähigkeit zu erreichen, indem der Sprachschatz sich den neuen Bedürfnissen entsprechend mit größter Geschwindigkeit durch neue autonome Bildungen erweitert und Fremdwörter durch nationale ersetzt werden, wodurch aber die Sprachen einen auseinanderstrebenden Charakter annehmen. Es ist also eine Pulsation zu bemerken in Form von Zusammenziehung und Zerstreuung. Solche Pulsationsvorgänge entgegengesetzter Art sind überhaupt das Charakteristische bei allen Lebenserscheinungen, gehören gewissermaßen zu deren Grundphänomenen. Tag und Nacht, Sommer und Winter, Oligarchie und Sozialismus, Faschismus und Kommunismus, Nationalismus ind Internationalismus, Kriegshetze und Pazifismus, Atheismus und sektiererischer Pietismus usw., immer sind beide vorhanden als gegenseitige Ergänzung, als die Spannungsbrennpunkte der Lebensellipse. Unsere Zivilisation ist bestrebt, diese Rhytmik durch einen gleichförmig fortlaufenden Prozeß zu ersetzen. – Ein Ozeandampfer hat Tag und Nacht fortlaufend Dienst ohne Unterbrechung, Fabriken arbeiten vielfach in drei Schichten ohne Pause. Aber auch in diesen Erscheinungen der Zivilisation und andererseits dem verschärften Drang des Kulturmenschen zur Natur (Wochenende) sehen wir das allgemeine Naturgesetz der Polarität erfüllt.
Neben der Zersplitterung der Sprachen sehen wir nun das Bestreben nach einer gemeinsamen internationalen Verkehrssprache, neben schärferer Betonung der heimatlichen, naturgewachsenen Muttersprache. Bei dem oben geschilderten Erwachen des Nationalgefühls, selbst bei den kleinsten Völkern, ist die Einführung einer Nationalsprache, also etwa des Englischen, wie Graf Coudenhove-Kalergi es für Paneuropa vorschlägt, einfach undenkbar. Denn das wäre gleichbedeutend mit der geistigen Herrschaft des Angelsachsentums über Europa. Wir wollen Europäer sein. Die finanzielle und technische Herrschaft Angloamerikas werden wir noch ertragen können, werden es vielleicht einmal dazu bringen, uns von ihr zu befreien dank Sparsamkeit und rationeller Wirtschaft, aber das ist nur möglich, wenn wir unsere europäische Seele und den ins Unendliche gerichteten Geist von der amerikanischen praktisch-materialistischen Beschränkung nicht überwuchern lassen. Jedem das Seine. Alle Hochachtung der bewunderungswerten Willenszähigkeit, Selbstdisziplin, dem gesunden Wirklichkeitssinn der Anglo-Amerikaner; sie sind für uns ein Vorbild. Aber unsere Seele und unseren Geist sollen wir nicht verkümmern lassen. Europa muß seine eigene Sprache haben. Die internationale Sprache ist nicht einzig auf Paneuropa angewiesen, aber ein Paneuropa ohne paneuropäische Sprache kann nicht lange bestehen bleiben. Und gerade die Sprache eines Landes, das nicht zu Paneuropa gehört, vielleicht gar nicht gehören will, soll die Sprache Paneuropas werden?
Daß diese Sprache Europas auch keine der in ihm vorhandenen Nationalsprachen sein kann, ist nach dem oben Gesagten wohl klar. Werden wir uns jemals einverstanden erklären können, etwa Französisch, Italienisch oder Spanisch als die offizielle Sprache Europas anzuerkennen, und werden diese Völker es etwa zulassen, daß dazu Deutsch gewählt wird, oder gar Tschechisch, Polnisch, Ungarisch, Holländisch oder Schwedisch? Kein Gedanke! Eine solche Sprache wird nie von den Staaten noch von den Völkern anerkannt werden können. Sogar wenn ein Staat die Macht hätte, seine Sprache den übrigen aufzudrängen, so wäre schon die Gefahr des Berstens der ganzen Vereinigung vorhanden. Das beste Beispiel gibt uns darin Österreich. Wäre es eine Art vereinigter Staaten gewesen mit eigenen Nationalsprachen und einer neutralen Staatssprache, es wäre vielleicht nicht zerfallen. Aber die Herrschaft der deutschen Sprache wollten die Völker, trotzdem sie sich dazu doch schon im Laufe von Jahrhunderten hätten gewöhnen können, nicht weiter ertragen: So kam es zur Trennung. Dasselbe war bei den russischen Randstaaten der Fall, die sofort vom großen Reich abfielen, als es ihnen möglich war. Darum ist die jetzige Politik Sowjetrußlands, welches sich als Staatenbund mit sprachlicher Selbständigkeit jedes einzelnen Bestandteiles eingerichtet hat, sehr weise.
Eine Nationalsprache kann also nie zu einer internationalen gemeinsamen Hilfssprache werden, jetzt weniger denn je.
Diese Betrachtungen führen uns zu der Erwägung, ob nicht eine tote Sprache, etwa Latein, oder eine künstliche Sprache eine Lösung bieten könnte. Wir wollen der Frage ein wenig näher treten.
Lebensprozesse sind keine umkehrbaren Prozesse, und Gestorbenes ist nicht wieder lebendig zu machen; darum sind auch die Versuche, das Latein wieder zu neuem Leben aufzuerwecken, allesamt fehlgeschlagen. Im Zeitalter des Radio, des Flugzeuges und des Telephons ist es zu schwerfällig, und auch der Versuch des Turiner Professors Peano, ein gestutztes Latein als Internationalsprache einzuführen, hat bisher nur bei einigen Gelehrten für ihre wissenschaftlichen Publikationen Anklang gefunden. So werden die astronomischen Berichte der Krakauer Sternwarte in Peanos „Latino sine Flexione“ publiziert. 90 v. H. dieser Veröffentlichungen bestehen aber aus Zahlen und Tabellen.
Daß „Latino sine Flexione“ für die lebendige Gegenwart und für aktuelle Texte brauchbar ist, hat bisher nicht erwiesen werden können, trotzdem es schon vor mehr als zwanzig Jahren veröffentlicht worden ist. Es ist nur der Torso einer Mumie, ohne jegliches, eigenes inneres Leben, das eine jede Sprache nötig hat.
So wandte sich die Menschheit oder vielmehr einzelne große Geister der Idee zu, eine neutrale, internationale Weltsprache für die Verständigung der Völker zu schaffen. Wie auf allen Gebieten waren auch hier die ersten Versuche natürlich ganz unbrauchbar. Man überschätzte eben die Möglichkeiten, wollte eine völlig neutrale, unabhängige, logische Idealsprache schaffen, die für alle Völker gleich verständlich oder (was auf dasselbe herauskommt) gleich unverständlich war.
Schon Leibniz und Descartes beschäftigten sich mit dieser Frage. Ich will mich bei der Geschichte dieser mißglückten Vorversuche, die aber ihren Wert haben als Beispiele, wie es nicht gemacht werden darf, nicht aufhalten. Namen wie Bischof Wilkins, Dalgarno, Sotos Ochando, Bollak, Grimm, Sudre, Gajewski, Hilbe, Foster usw. zeigen, daß Vertreter der verschiedensten Nationen hier ihr Heil versucht, es aber nicht gefunden haben. Auch zeigen diese Versuche keine aufsteigende Entwicklungslinie. Es sind alles Versuche einer schematischen Lösung nach aprioristischen (d. i. nach nicht auf Erfahrung fußenden) Methoden und mit willkürlicher Ansetzung von Prinzipien, die mit den von Natur gegebenen Tatsachen natürlich gar nichts zu tun haben, ja den Gesetzen des Sprachlebens geradezu entgegengesetzt sind. Sie haben somit nur noch einen antiquarischen Kuriositätenwert.
Der erste Versuch, der einen Erfolg aufwies, war das Volapük des deutschen katholischen Pfarrers Johann Martin Schleyer in Konstanz am Bodensee. In einer schlaflosen Nacht ging ihm, wie er erzählt, die Idee einer regelmäßigen Grammatik auf, nach welcher durch rückwärts angefügte Vokale die Fälle, und durch vorn angefügte Vokale die Abwandlung der Zeitwörter ausgedrückt wurden. Nun fing er an, ein Wörterbuch zu schaffen, das sich dieser Grammatik anpassen mußte, d. h. jedes Wort mußte mit einem Konsonanten beginnen und mit einem Konsonanten schließen. Dabei durfte als Schlußlaut das s nicht vorkommen, da s die Mehrzahl bezeichnen sollte. Im übrigen legte Schleyer den Wortstämmen nicht irgendwelche philosophische Prinzipien, sondern die Wörter der englischen Sprache, als der welbtbekanntesten, zugrunde. Allerdings ging es dabei wegen der willkürlichen Grammatik nicht ohne Verstümmelungen ab. So wurde z. B. aus „Rose“ lol, aus „world“ wurde vol, aus „speak“ pük (denn pik hatte schon eine andere Bedeutung), also Volapük: „der Welt Sprache“. Da nun Homonyme (d. s. gleichlautende Wörter verschiedener Bedeutung) nicht existieren durften, andererseits die Wörter zu einer übertriebenen Primitivität herabgeschraubt waren, so erhielten sie eine Ähnlichkeit und Ausdruckslosigkeit, die das Behalten und Unterscheiden außerordentlich erschwerte. Volapük-Wörter wie: pap, bap, bab, bäb, bäp, päb, pep, peb, bep, beb … usw., sind aber sowohl schwer zu sprechen, als auch vor allem schwer auseinanderzuhalten und leicht zu verwechseln. Ferner mußten wegen der oben angeführten Gründe auch alle internationalen Wörter stark verstümmelt, unter Umständen gar durch neue Machwerke ersetzt werden, z. B. heißt „Lokomobile“ müf, „Lokomotive“ lemüf, „Technik“ kaen usw.
Trotz dieser wunderlichen Eigenheiten hatte das Volapük doch einen ganz beispiellosen Erfolg, der eigentlich ganz unverständlich ist, wenn man es in seinem Bau mit anderen ganz bedeutend besseren Vorschlägen jener Zeit, wie der „Universalsprache“ von Pirro u. a., vergleicht. Hier wirken zwei Umstände mit: 1. Die ausgezeichnete Organisation und Propaganda (es waren sofort Grammatiken, Übungsbücher und Wörterbücher in den verschiedenen Sprachen zur Stelle, so daß es möglich war, die Sprache sofort anzuwenden). Dann aber war 2. die absolut regelmäßige Grammatik ohne Ausnahmen und die sinnreiche Methode, durch verschiedene Bildungssilben mit eindeutig bestimmtem Sinn eigene Ableitungen zu bilden, bestrickend, was zu einem eigenartigen Sport wurde, wie etwa vor kurzem das Kreuzworträtsellösen. Außerdem wirkte natürlich die Idee an sich.
Trotz alledem ist es zu verwundern, daß Volapük sich so verbreiten konnte. Ich bin überzeugt, wenn man jetzt denen, die nie von einer Weltsprache gehört haben, die also auch die neuen Systeme nicht kennen, Volapük als internationale Sprache anbieten wollte, wäre das Fiasko sicher. Augenscheinlich muß doch die geistige Einstellung der Öffentlichkeit anders geworden sein. Heutzutage ist man weniger schematisch eingestellt und scheint kritischer veranlagt zu sein. Viel wirkte aber jedenfalls die natürlich auch aufgebauschte Tatsache, daß Volapük in allen Ländern bekannt sei. Ich erinnere mich, als ich selbst mit dem Volapük bekannt wurde, widerte es mich an, und ich war eigentlich mit allem unzufrieden; aber die Tatsache, daß damals Volapük bereits 28 Zeitschriften hatte und 283 Vereine über die Welt zerstreut waren, wirkte so suggestiv, daß man sozusagen gelähmt war. Man hatte das Gefühl, die Sache habe sich schon durchgesetzt, also es lohne sich nicht mehr, Einwendungen zu erheben, man müsse eben mit Volapük als gegebener Tatsache rechnen. Die Idee, sich etwa selbst hinzusetzen und etwas Besseres zu schaffen, ist mir damals nicht einmal im Traume beigekommen; ich hatte nur den Gedanken, daß es vielleicht zu verbessern sei. Aber auch das war unmöglich; einige Versuche, wie der von Gjuro Bauer und anderen, blieben auf dem Papier.
Der Abstieg des Volpük war ebenso schnell und plötzlich, wie sein unerwarteter glanzvoller Aufstieg. Sechs Jahre dauerte der Aufstieg; dann kam im Jahre 1887 das „Esperanto“ des Augenarztes Dr. Zamenhof auf. Eine Zeitlang hielt sich Volapük noch, doch wurde nach dem Erscheinen des Esperanto die Einsicht von der Notwendigkeit grundlegender Reformen immer zwingender, und unter der Leitung des damaligen neugewählten Vorsitzenden der Volapükakademie, Ingenieur Rosenberger, begann die Reformarbeit, die zum sugenannten „Idiom Neutral“ führte. Die Operation gelang, aber der Patient Volapük starb daran noch vor Vollendung der Operation. Das Sonderbare ist nun, daß nur ein ganz geringfügiger Teil der Volapükisten sich den anderen Systemen, Esperanto und dem neugeschaffenen Idiom Neutral zuwandte. Die meisten zogen sich vollkommen von der Weltsprachbewegung zurück. Wenn man in Betracht zieht, wie unendlich viel besser jedes dieser beiden Systeme war als das Volapük, daß sie also eigentlich schon damals bedeutend mehr Aussichten als Volapük hatten, den Kampf zu Ende zu führen, so ist eine solche Stellungnahme fast unverständlich. Jedenfalls ist es ein klägliches Zeichen für den Besitz an Objektivität und Wirklichkeitssinn der damaligen Weltsprachanhänger. Ein großer Teil wird wohl einfach aus Trägheit die Sache weggeworfen haben. Man wollte nicht umlernen, und dann tauchten jetzt die Weltsprachprojekte wie die Pilze nach dem Regen auf. „Wie oft soll man denn umlernen? Wir warten bis die Sache endgültig ist!“ Aber wann ist eine Sache überhaupt endgültig? Wenn alle Interessenten gewartet hätten bis der Explosionsmotor seine endgültige Form erreicht hätte, würden wir nie weder einen Motor, noch ein Automobil oder Flugzeug bekommen haben. Nur der Gebrauch zeigt das Taugliche und merzt das Untaugliche aus.
In derselben Lage befand sich das Esperanto, das im Jahre 1927 sein 40jähriges Bestehen gefeiert hat, und zwar genau in derselben Grundform, in welcher es 1887 veröffentlich wurde; denn die in den neunziger Jahren einsetzende Reformbewegung, an der ich regen Anteil nahm, wurde durch eine vom Autor veranstaltete Abstimmung der Abonnenten der Zeitschrift „La Esperantisto“ mit 59 v. H. Konservativen gegen 41 v. H. Reformisten beendet, wonach keinerlei Reformen mehr, und seien es auch die vernünftigsten, zugelassen wurden. Und so blieb es bis jetzt.
Ich gehe nun etwas näher auf den Aufbau des Esperanto ein, da es eine hervorragende Rolle in der Geschichte der Weltsprachbewegung gespielt hat.
Das grundlegend Neue war, daß der Verfasser des Esperanto sich auf den Boden Europas stellte, indem er die Wortstämme seines Idioms den hauptsächlichsten europäischen Sprachen entnahm, für damalige Verhältnisse und ohne Vorbilder mit seltenem Geschick gewählt, die sich verhältnismäßig elegant in das von ihm erfundene grammatische Schema einfügten. Natürlich mußten deshalb die Wörter etwa retuschiert werden, doch blieben die Stämme meist leicht erkennbar. Wenn man bedenkt, daß der junge Zamenhof außer seinen am Gymnasium erworbenen über keinerlei weitere philologischen, psychologischen und soziologischen Kenntnisse verfügte, so müssen wir über den glücklichen Wurf dieses Jugendwerkes staunen, welches das Volapük turmhoch überragte und jedenfalls bei Mangel an positiven Kenntnissen ein außergewöhnlich feines Empfinden für das Wesentliche und Praktische zeigte. Es war eine geniale Tat, derjenigen eines James Watt an die Seite zu stellen. Daß es eine endgültige Lösung darstellen könnte, war ebensowenig zu erwarten wie bei der Erfindung Watts. Daher hatte die Stabilisierung des Esperanto wohl einen für die erste Verbreitung hohen praktischen Wert; sie muß aber dem Esperanto eines Tages zum Verhängnis werden, da man den Fortschritt auf die Dauer nicht künstlich ausschalten kann, ohne daß es zu Katastrophen kommt.
Da Zamenhof polnischer Jude war, so hatte er gewissermaßen drei Muttersprachen, Jiddisch, Polnisch und Russisch, die dann bei der Geburt des Esperanto zu Gevatter gestanden haben, was jeder, der diese Sprachen kennt, leicht herausfindet. Vor allem ist da die polnische Orthographie und Betonung zu nennen, die den in der Mehrzahl latino-romanischen und germanischen Wortstämmen aufgezwängt wurde, z. B. colo (Zoll), caro (Zar), deca (dezent) usw. Durch die polnische Betonung wurde ein fremdartiger Klang hervorgerufen, z. B. internacia, radio, regulo, okulo, opero, Azio usw. Die Einführung der slawischen Verbalaspekte bringt es mit sich, daß bisher die besten Stilisten des Esperanto Slawen waren, während die Deutschen, Engländer und Japaner es am meisten mißhandelten.
Das Charakteristische in Esperanto sind jedoch seine willkürlichen Etiketten für grammatikalische Kategorien, wie die Endung -o für die Hauptwörter, wodurch die Wörter für europäische Begriffe einer kindischen Maskerade unterzogen wurden; man vergleiche hundo (Hund), brusto (Brust), hauto (Haut), Europo (Europa), Elizabeto (Elisabeth), boáo (Boa), kafo (Kaffee), sofo (Sofa), knabo (Knabe), fraulo (Junggeselle), edzo (Gatte) usw.
Von edler Menschenliebe getrieben, suchte Zamenhof seine Sprache leicht zu gestalten, indem er möglichst wenig an auswendig zu lernendem Material verwendete; so bildete er z. B. alle weiblichen Wörter durch die Anhängesilbe -in. Mutter hieß also patrino (eigentlich weiblicher Vater), Weib virino (weiblicher Mann) usw. Der Gegensatz eines Begriffes wurde durch die Vorsilbe mal- gebildet, also mallonga = kurz, malbona = schlecht usw.
Sein sinnreiches System der Bildungssilben befähigte nun das Esperanto, eine Menge abgeleiteter Begriffe von den verhältnismäßig wenigen Wortstämmen zu erhalten. Da sie aber leider wegen mangelnder sprachwissenschaftlicher Erkenntnis Zamenhofs sehr unglücklich gewählt waren, so kontrastierten die durch sie erreichten Neubildungen unangenehm mit den international bekannten Formen, vergleiche redaktisto, redaktejo, publikigajho, aliformigilo, katolikismo usw. statt redactor, redaction, publication, transformator, catolicism. Man kann sie zu Tausenden in den Wörterbüchern des Esperanto finden. Das moderne Esperanto sucht nun diese Wörter durch quasi-internationale Wörter zu ersetzen; also redaktoro, redakcio, transformatoro usw. Aber damit ist die Leichtigkeit des Esperanto besonders für Völker, die nicht dem europäischen Kulturkreis angehören, ad absurdum geführt, denn nun hat Esperanto Tausende neuer Wörter, die einerseits ohne etymologischen Zusammenhang mit dem Stammwort dastehen, also Ausnahmen bilden, andererseits aber sogar von Personen, die diese Wörter aus den Nationalsprachen kennen, nicht angewandt werden können, da sie nach der Esperanto-Orthographie geschrieben werden und doch etwas dem Geist der Sprache angepaßt werden müssen, wie z. B. aus redaction das oben erwähnte redakcio, welches erstens eine Ausnahme und zweitens doch eine Karikatur darstellt. Man kann also sagen: Wo Esperanto international ist, ist es nicht regelmäßig, und wo es regelmäßig ist, ist es nicht international, sondern groteske Willkür.
Die Eigenschaften des Esperanto konnten auf die Dauer nicht allgemein befriedigen. Da aber infolge strenger Disziplin seiner Anhänger jede Reform ausgeschlossen ist, so tauchten nun aus allen Ecken und Enden neue Weltsprachprojekte auf, die aber meist wenig Wert hatten, und jedenfalls keinerlei Anhängerschaft dauernd an sich zu fesseln vermochten. Nun reifte im Innern der Esperantowelt selbst eine reformatorische Bewegung heran, geführt vom bekannten Pariser Mathematiker und Logiker Professor Couturat. Auf seine Anregung wurde 1901 die „Delegation zur Annahme einer internationalen Hilfssprache “ gegründet, die eine Weltpropaganda zu dem genannten Zweck aufnehmen sollte. Hauptsächlich bestand diese Delegation aus Esperantisten, die einen Verein oder eine Gesellschaft repräsentierten. Die Delegation reichte 1906 bei der Internationalen Assoziation der Akademien durch Professor Hugo Schuchardt (Graz) von der Wiener Akademie der Wissenschaften eine Petition ein, worin beantragt wurde, die Assoziation möge die Frage der Annahme einer internationalen Hilfssprache begutachten. Da die Assoziation der Akademien sich aber als nicht zuständig erklärte, wurde ein Sonderausschuß aus bekannten Wissenschaftlern gewählt, die teils Esperantisten, teils in dieser Materie vollkommene Laien waren.
Dieser Ausschuß, der wegen Nichterscheinens einer großen Zahl von Mitgliedern sich selbst kooptierte, traf nach Durchsicht der vorgelegten Sprachprojekte in der engern Wahl zwischen Esperanto und Idiom Neutral (dem reformierten Volapük) die Entscheidung, im Prinzip das Esperanto anzunehmen „wegen seiner bereits großen Verbreitung“ (also nicht wegen seines inneren Wertes), jedoch mit den vom anonymen Projekt „Ido“ vorgeschlagenen Reformen. Als Autor des Ido meldete sich der allerhervorragendste Propagandist und Förderer des Esperanto, Marquis de Beaufront, welcher vor dem Komitee auf Bitte Zamenhofs das Esperanto vertreten hatte, da Zamenhof selber nicht nach Paris kommen konnte. Zamenhof hatte zuerst die Arbeiten der Delegation unterstützt, da er sich der Hoffnung hingab, sie werde Esperanto wählen. Unter dem Druck führender Esperantisten weigerte er sich nun, sich dem Urteilsspruch zu fügen; so kam es zur Spaltung. Eine große Zahl Reformer, darunter eine Reihe führender Esperantisten, ging zu Ido über, das dank der machtvollen Persönlichkeit Couturats und den ihm zur Verfügung stehenden Geldmitteln bald eine fieberhafte Tätigkeit begann, die zu einem großartigen Ausbau des Begonnenen führte.
Leider war die abstrakt-logische, dem Leben fremde Denkart Couturats die Ursache, daß die Entwicklung des Ido, wie die neue Sprache genannt wurde, einen pathologischen Verlauf nahm. Während der gesunde Wirklichkeitssinn Zamenhofs es nicht zuließ, daß die Dogmatik das Leben überwucherte, leistete sich die übertriebene Logik des Ido abstruse Formen, wie sie sogar in Esperanto nicht vorkamen, z. B. formacuro (Formation), sanesala (sanitär), kronizo (Krönung), martelagar (hämmern), specifiva (spezifisch), registragisto (Registrator) usw. Es ist bekannt, daß die Logik nie einen Fehler in der Voraussetzung korrigieren kann. So zeigt denn gerade Ido mit seinen Auswüchsen, am allerbesten, daß die Grundlage des Esperanto falsch ist und daß auf ihr unmöglich eine wirklich internationale Sprache aufgebaut werden kann, da gerade die willkürlichen Endungen des Esperanto im Ido erhalten geblieben sind. Esperanto sowie Ido sind nicht korrigierbar. Sie sind gezwungen, alle internationalen wissenschaftlichen Wörter umzutaufen.
Im Jahre 1928 hat Professor Jespersen, einer der Mitverfasser des Ido, veranlaßt durch die in den Reihen der Idobewegung durch das Erscheinen des Okzidental verursachte Verwirrung, eine Rettung und Sammlung der zerstreuten Anhänger unter einer neuen Flagge unternommen. Der von ihm verfaßte neue Weltsprachentwurf hat den Namen „Novial“ erhalten. Leider sind fundamentale Irrtümer des Ido beibehalten worden. Manches von dem, was Okzidental an Neuem gebracht hat, ist in das neue System hineingearbeitet worden. In den Grundlinien aber unterscheiden sich die beiden Systeme wie Öl und Wasser. Jespersen geht nämlich nicht von dem in den internationalen Wörtern niedergelegten faktischen Material aus, wie das in Okzidental der Fall ist, sondern wie seinerzeit Volapük von aprioristischen Forderungen, z. B. der Eindeutigkeit der Buchstaben und der phonetischen Orthographie, der schematischen Gleichheit der Deklination der Für- und Hauptwörter und dgl. Infolgedessen merzt Jespersen die Buchstaben c und z und y als Vokal vollständig aus, wodurch er unter anderen zu folgenden Rätselwörtern gelangt: sent (hundert), sink (fünf), sinke (Zink), sene (Szene), pase (Frieden), sone (Zone). Da er auch keinen Doppelkonsonanten zuläßt, so erhält er tase (Tasse), und tasa (verschweigen), seso (Zession), rase (Rasse), sele (Zelle) usw.
Da Jespersen in seinem System vom Ido ausgeht, in welchem er allerdings die gröbsten Ungeheuerlichkeitn ausmerzt, so ist manches vom Ido geblieben, und ist vieles nur der Form, aber nicht dem Geiste nach geändert. So heißt z. B. Prinzessin prinsa, Mutter matra. Die Wortbildung ist infolge der aprioristischen, teilweise vom Ido geerbten Methoden häufig willkürlich und nicht international, z. B. korektise (Korrektur), kura (heilen), aber konkura (konkurrieren), vidabli (sichtbar) usw., homaro (Menschheit), wie in Esperanto und Ido. Ganz aprioristisch sind die Fürwörter des Novial: nusen, lusen, lon, lan, quum, tum, disi, lum, lom usw. Jespersen meint zwar, man gewöhne sich bald an diese Formen. Das mag schon sein; man sieht es ja an den Esperantisten, wie sie an den Mißbildungen im Esperanto keinen Anstoß nehmen. Es handelt sich aber vor allem darum, die internationale Sprache einzuführen, und da dürften die Gewohnheiten der Europäer doch mehr in Betracht zu ziehen sein, als die Anpassung an Orientalen, die an den Formen nicht mäkeln werden. Der Hauptfehler des Jespersenschen Entwurfes ist, daß hauptsächlich durch seine nicht internationale Orthographie, dann aber auch durch Beibehaltung einiger Fehler des Ido eine große Menge internationaler Wörter entweder verunstaltet werden, oder sich als Fremdwörter dem System eingliedern müssen. Aber kann man sich etwas Widersinnigeres denken als internationale Wörter, die in der internationalen Sprache – Fremdwörter sind?
Professor Lorenz (Frankfurt) urteilt hierüber schon 1908 folgendermaßen: „Die Tausende von Wörtern der wissenschaftlichen und technischen Nomenklatur, welche die Gelehrten aller Länder unabhängig von ihrer Nationalität seit Jahrhunderten nach weitgehenden einheitlichen Grundsätzen geprägt und festgestellt haben, gleichwie eine Menge stark übereinstimmender allgemeiner Kulturausdrücke, bilden einen in der Wissenschaft und von der Wissenschaft zusammengetragenen, so großen, wichtigen und wertvollen Kulturschatz, daß wir ihn unter keinen Umständen opfern können. In Wirklichkeit bilden alle diese Wörter und auch viele andere dem täglichen Leben entnommene den wahren und unantastbaren Grund, das wirkliche und natürliche Fundament für die internationale Sprache. Allen Gelehrten und insbesondere den Naturforschern ist diese internationale Hilfssprache, die nichts anderes als ein Grundelement unserer allgemeinen Bildung ist, so sehr zur zweiten Natur geworden, sie ist so eng mit dem Betriebe der Wissenschaft und dem praktischen Leben verknüpft, daß man bis zu einem gewissen Grade schon längst gewöhnt ist, in dieser Sprache zu denken und zu schreiben, unabhängig von der Nationalität. – Es kann daher nicht bestritten werden, daß besonders innerhalb der Wissenschaft ein Anfang zu einer internationalen Sprache faktisch lebt und existiert, welche geschrieben, gelesen und gesprochen wird. Hier finden wir ein erstes provisorisches Lexikon für die internationale wissenschaftliche Hilfssprache fertig. Daher kann man eigentlich nicht sagen, die Wissenschaft solle unter den vorgeschlagenen künstlichen eine „auswählen“, denn sie kann hier nicht nach Gutdünken handeln. Die Hilfssprache, welche zur Annahme kommen wird, kann nichts anderes sein als eine Ausarbeitung des schon vorhandenen und lebenden Fundamentes einer internationalen Sprache. – Niemals kann die Wissenschaft als international eine Sprache anerkennen, welche die schon tatsächlich bestehende Internationalität im wissenschaftlichen Wortschatz zerstört.“ –
Damit ist solchen Sprachen wie Volapük, Esperanto, Ido und ihren Verbesserungen endgültig das Todesurteil gesprochen. Sie lebten nur so lange, als es keine Sprache gab, die den von Professor Lorenz präzisierten Bedingungen entsprach.
Dieselben Gedanken, die Professor Lorenz ausgesprochen hat, hatte ich schon damals, als wir Reformisten Esperanto verbessern wollten. Dasselbe schwebte dem Wiener Julius Lott vor, als er in den Jahre 1888 bis 1899 seine „Mundolingue“ veröffentliche. Er ist zweifellos derjenige, welcher der Wahrheit am nächsten gekommen ist, aber in den damaligen Zeiten fand er leider keinen Anklang. Es fehlte seinem System auch die innere Organisation; es stellt bloß eine Kompilation des vorhandenen internationalen Materiales dar, aber unbearbeitet.
Diese Arbeit habe ich unternommen. Ich sah ein, daß eine Synthese notwendig war zwischen Lott und Zamenhof. Das Lottsche Material mußte einer regelmäßigen Grammatik und Wortbildung unterworfen werden. Aber das war ja der große Stein des Anstoßes. Die meistgebrauchten internationalen Wörter stammen von den rund hundert unregelmäßigen lateinischen Verben ab, und unregelmäßig durfte ja die Grammatik und Wortbildung einer internationalen Sprache nicht sein. Es kostete langjährige Arbeit, hier eine Lösung zu finden, besonders da in dieser Richtung die Wissenschaft fast kein oder nur wenig wirklich brauchbares Material liefern konnte. So waren die meisten Vorarbeiten, z. B. bei der Bearbeitung der Suffixe (der Wortbildungssilben) vollständig neu zu machen. Dreißig Jahre meines Lebens habe ich dieser Arbeit gewidmet. Im Jahre 1922, als im Völkerbund die Frage einer internationalen Verkehrssprache aufgeworfen werden sollte, hielt ich es nicht mehr für möglich, an meinem Werk weiter herumzufeilen, um etwas absolut Vollkommenes darzubieten, sondern entschloß mich, mein System zu veröffentlichen und es dem Völkerbund vorzulegen, der es auch in seinem Bericht über die internationale Sprache erwähnt. Wie bekannt, drückte der Völkerbund dem Esperanto seine Anerkennung für seine große Tätigkeit aus und übergab im übrigen die Sache dem Ausschuß für geistige Zusammenarbeit. In seinem Bericht als Referent des Ausschusses hat der Berner Universitätsprofessor G. de Reynold über Esperanto und Ido ein vernichtendes Urteil gefällt. Er sagt dort unter anderem: „Was soll man von einer Hilfssprache fordern, wenn nicht das, daß sie imstande sei, Begriffe aller Art, wirtschaftliche, technisch, wissenschaftliche, literarische auszudrücken … Zamenhof stellte den Wagen vor den Ochsen. Daher mußte er seinen Wortschatz seinem Sprachmechanismus opfern … Esperanto ist barbarisch“ usw. Das Gutachten des Ausschusses für geistige Zusammenarbeit entsprach denn auch diesem Urteil. –
Ich veröffentlichte also im Februar 1922 das erste Heft meiner in der von mir konstruierten Sprache „Occidental“ verfaßten Zeitschrift „Kosmoglott“, und bald darauf den auf acht Seiten gedruckten Schlüssel des Okzidental, der die Grammatik und sämtliche Wortbildungsregeln enthielt, dem dann ebensolche Schlüssel in französischer, englischer und russischer Sprache folgten. Acht Jahre lang wurde nun das Okzidental im Gebrauch ausprobiert und geschliffen. Trotz Fehlens der allerwichtigsten Hilfsmittel wurde das Okzidental sowohl in der Zeitschrift „Kosmoglott“ (jetzt „Cosmoglotta“ in Wien), wie auch in den gedruckten Broschüren von allen Interessenten verstanden, ja, es entspann sich ein heißer Kampf auf dem sprachwissenschaftlichen Gebiet, der zu einem beachtenswerten Zustrom von Idisten zu Okzidental führte, dem sich neuerdings auch Esperantisten anschließen, obwohl es ihnen äußerst schwer fällt, sich von den angewöhnten, geliebten Vorurteilen zu trennen.
Diese Vorurteile, diese falschen Axiome sind gerade das, was die Entwicklung der Weltsprachbewegung so außerordentlich aufgehalten hat. Es ist bekannt, wie gewisse scholastische Axiome des Aristoteles gerade wegen seiner Autorität die Entwicklung der Naturwissenschaften aufgehalten haben. Ähnlich wirkten auch bezüglich der Weltsprachenfrage die sowohl von Schleyer und seinen Vorgängern, als auch gerade von der „American Philosophical Scoiety“ aufgestellten Grundsätze, wie eine Weltsprache beschaffen sein müsse. Sie hätte, um sich populär auszudrücken, schließlich ein Schaf mit fünf Beinen sein müssen. So waren denn, solange man diesen aprioristischen Prinzipien nachstrebte, nur monströse Projekte möglich.
Leider haben aber diese vorgefaßten „Prinzipien“ sich im Laufe der Zeit in den Hirnen der Weltsprachler so festgesetzt, daß diese sozusagen wie Fliegen am Fenster sich die Köpfe einrannten, ohne den Ausweg zu finden, der darin lag, daß man auf die Anfänge zurückging.
Im gegebenen Falle hieß das also alle Prinzipien beiseitewerfen und erst einmal sehen, was überhaupt möglich und was notwendig war.
Diese Untersuchung hat im Laufe der letzten fünfzig Jahre, während welcher das Weltsprachproblem intensiver die Geister beschäftigt hat, ergeben, daß vollkommene Regelmäßigkeit, vollkommen phonetische Schreibweise, vollkommene Logik der Wortbildung und gleichzeitig vollkommene Internationalität, vollkommene Natürlichkeit und sofortige Verständlichkeit für alle Menschen ein Ding der Unmöglichkeit sind. Es können also diese Wünsche oder Forderungen nur teilweise befriedigt werden, und es bleibt somit Sache des künstlerischen Empfindens und praktischen, gesundern Menschenverstandes, eine Harmonisierung all dieser verschiedenen divergierenden Tendenzen vorzunehmen, um die bestmögliche Lösung zu finden; denn eine absolute, ideale Lösung gibt es ja nicht.
Ich hoffe, daß die meinige natürlicher und leichter, dabei aber mindestens ebenso regelmäßig ist, wie die bisherigen; wenn auch die einzelnen Gebiete, wo eine Sprache die andere in dieser Beziehung übertrifft, naturgemäß verschieden sind.
Im Volapük waren das die absolut phonetische Orthographie und die ausnahmslose Regelmäßigkeit der Grammatik sowie seine Kürze. Seine Mängel dagegen: der bizarre Wortschatz, das Fehlen aller internationalen Wörter, die absolute Unverständlichkeit ohne Lexikon und die außerordentlich schwere Sprechbarkeit infolge der ungewohnten grammatikalischen Regeln und der zu wenig charakteristischen Wörter.
Esperanto bucht in sein Kreditkonto die Leichtigkeit seiner Grammatik, die Fähigkeit zu schier unendlichen Neubildungen und die Sparsamkeit der Wortstämme, ins Debet dagegen seine Schwerfälligkeit und Länge, hervorgerufen erstens durch obligatorisches Anhängen von grammatischen Endvokalen und zweitens durch die zufolge des Mangels an Stämmen notwendig werdenden langstieligen Zusammensetzungen, vor allem aber seine Verunstaltung von internationalen Wörtern und seine vielen Worträtsel sowie seine Dachbuchstaben.
Ido kann sich des Vorzuges eines sorgfältiger ausgewählten Alphabetes und Wortschatzes und größerer Präzision rühmen, dagegen sind seine Mängel im Ganzen dieselben wie die des Esperanto, nur sind die Verstümmelungen der internationalen Wörter noch mehr fühlbar und die Anwendung der Sprache ist schwieriger durch den logischen Zwang zu gewissen unnatürlichen Formen.
Universal (im Jahr 1906 von Professor H. Molenaar in München veröffentlicht) hat den Vorzug der Kürze und Enheitlichkeit des Wortschatzes, dagegen fehlt die klare Wortbildungslehre, und die deutsche Orthographie des vorwiegend romanischen Wortschatzes wirkt störend.
Latino sine Flexione (im Jahre 1903 von Professor G. Peano in Turin veröffentlicht) hat die größte Einheitlichkeit und Tradition; es hat auch in Konjugation und Deklination den Analytismus (d. i. die Anwendung von Hilfswörtern an Stelle von Bildungssilben) vollkommen durchgeführt, besitzt aber keine Möglichkeit zu irgend welchen Neubildungen, ist zu altertümlich und schwerfällig und hat alle lateinischen Unregelmäßigkeiten in den Partizipien beibehalten. Das Fehlen der Entwicklungsfähigkeit nimmt ihm die Möglichkeit des Lebens.
Novial hat den Vorzug einer einfachen phonetischen Orthographie, eines stark analytischen Baues und einer großen Kürze. Der erste Vorzug ruft jedoch noch größere Mängel hervor, nämlich schwere Verständlichkeit beim Lesen wegen des ungewohnten Schriftbildes und wegen der Verstümmelung tausender internationaler Wörter durch unnatürliche Ableitungen.
Der Hauptübelstand all dieser Systeme ist aber die Unfähigkeit, nach eigenen Regeln international bekannt Ableitungen zu erhalten; auch sind sie, vielleicht mit Ausnahme von Latino sine Flexione, selbst dem gebildeten Europäer nicht immer verständlich.
Okzidental nun werden als Mängel seine nichtphonetische, etymologische Orthographie, die Akzente auf den Vokalen, die Menge und die Flüssigkeit seiner Ableitungssuffixe, manche Unregelmäßigkeiten in seiner Grammatik vorgeworfen, aber wie die Zeitschrift „Heroldo de Esperanto“ richtig bemerkt: „Die Mängel des Okzidental sind seine Vorzüge“. Denn gerade dadurch ist die von keinem anderen System erreichte Natürlichkeit des Okzidental bedingt, die sofortige absolute Verständlichkeit für jeden Westeuropäer und Amerikaner, sowie für alle Gebildeten und die außerordentliche Leichtigkeit im praktischen Gebrauch, da es sich vollständig den europäischen Gewohnheiten anschmiegt.
Als weitere Vorzüge wären zu buchen: die Einheitlichkeit des Stils, sowie der hervorragende kulturelle und pädagogische Wert des Okzidental. Im allgemeinen kann man sagen: Okzidental ist das am meisten harmonische und am wenigsten extreme System. Es hat keine aprioristischen Prinzipien, es sei denn der energetische Imperativ von Wilhelm Ostwald: „Vergeude keine Energie, verwerte sie!“ Nicht Ökonomie in der Anzahl der Buchstaben, Wörter, Paragraphen und Regeln, sondern im Kraftaufwand beim Erlernen und Gebrauch der Sprache.
Die Befolgung des Naturgesetzes vom geringsten Widerstand bietet dem Okzidental im Wettkampf der Sprachen die sicherste Gewähr für den Erfolg.